Der Verbleib des Generators

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„...Und jetzt...?" In Emilia's Augen spiegelt sich die Hoffnungslosigkeit wider, als sie in drei gähnende schwarze Schlunde blickt. Der Tunnel endet in einem Zwischenraum, der jedoch drei weitere Durchgänge beherbergt. „Grusha, was machen wir jetzt?" Der Angesprochene zieht seine Augenbrauen zusammen, während seine eisblauen Augen jedes der schwarzen Mäuler mustert. „Ignorierst du mich etwa?" Insgeheim ist der Sportler in dieser Situation genauso hilflos wie sie, daher versucht er seinen Verstand zu benutzen, was ihm wegen ihres ständigen Geplappers einfach nicht gelingen will. „Kannst du mal für fünf Minuten den Schnabel halten?" Grusha macht sich nicht einmal die Mühe, um den knurrenden Unterton in seiner Stimme zu verbergen. „Sag mal, geht's noch? Ich wollte doch nur wissen, ob du...-"
„Halt den Rand!" Stille. Emilia hat es tatsächlich die Sprache verschlagen.

Wie kann es dieser eiskalte Bastard nur wagen, sie so dermaßen anzuschreien? Die junge Frau presst die Lippen fest aufeinander, während sie sich selbst umarmt und tapfer versucht die Tränen zurückzuhalten. Am liebsten hätte sie ihm ein paar Schimpfwörter an den Kopf geworfen. Doch das hätte ihre Situation auch nicht besser gemacht. „...Lass uns die Jacken wieder tauschen..." Wirklich? Etwas anderes fällt diesem Hohlkopf nicht dazu ein? Dabei hat er sich nicht einmal bei ihr entschuldigt. Ohne ein Wort zu sagen, öffnet sie seine Jacke, um sie ihm zitternd zurückzugeben. So schnell sie nur konnte, schlüpfte sie in ihre eigene wieder hinein Wobei er ihr aufgrund des Knochenbruches beim anziehen helfen muss. Sie riecht ein bisschen nach ihm. Ansonsten krabbelt die wohlige Wärme in ihren Brustkorb zurück. „Ich bin ohne dich schneller, als wartest du hier." Emilia glaubt sich soeben verhört zu haben. „Was? Das kannst du doch nicht machen!"

„Du siehst doch, dass ich es kann. Wir haben keine andere Wahl und müssen alle drei Tunnel ausprobieren. Lange wird dein Handy das nicht mehr mitmachen, also müssen wir uns beeilen." Emilia jault einmal laut auf, als sich ihr kaltherziger Begleiter schon in Bewegung setzt. „Komm sofort zurück! Du kannst mich doch nicht einfach alleine lassen." Vergebene Liebesmüh. Grusha hat sich ohne zu zögern in den linken Tunnel gestürzt. Er hat sie alleine zurückgelassen. Nur sie und die kalte Stille der Dunkelheit. Emilia's Körper versteift sich. Das letzte bisschen Verstand was ihr noch geblieben ist hat soeben begriffen, dass Grusha sie verraten hat. Der tödliche Hauch der Eiseskälte, streckt seine frostigen Klauen nach ihrem Herzen aus. Bereit das pochende Organ zu umklammern und somit zum Stillstand zu bringen. Plötzlich fällt Emilia das Atmen schwer. Ein erdrückendes Gefühl von Todesangst kriecht ihr kalt über den Rücken. Schwitzend und frierend zugleich, formt sich der schwarze Pesthauch zu einer Panikattacke, die kurz davor ist aus ihr auszubrechen. Emilia fällt auf die Knie. Ihre zitternden Beine können ihr Körpergewicht nicht mehr tragen.

„...Wieso...?", wimmert sie leise vor sich her. „...Wieso...hat er das...getan...?" Dicke, salzige Tränen laufen ihr über die Wangen, die selbst bei diesen brutalen Temperaturen zu Eis erstarren und als winzige Kristalle zu Boden fallen. Aus purer Verzweiflung heraus, beißt sie sich selbst fest in die Hand um zu überprüfen, ob das alles vielleicht nur ein böser Traum ist. Oder viel mehr um einschätzen zu können, ob sie überhaupt noch lebt. Tauber Schmerz hat eingesetzt. Ein klares Zeichen dafür, dass sie nicht tot ist. Noch nicht. Plötzlich kann die Aschblonde nahende Schritte hören. Völlig orientierungslos geworden, scheinen sie aus jeder Richtung zu kommen. Erst das darauffolgende Licht, das ihr schmerzhaft in die Augen scheint, hat sie wieder in die Realität zurückgeholt. Ein keuchender Grusha schaut sie an. „Da hinten ist eine Sackgasse, da geht's nicht weiter." Ein kurzer Blick in ihr Gesicht lässt ihn übles erahnen. „...Was hast du in den zweiten Minuten getrieben, während ich weg war...?"

Emilia kann nichts anderes tun, außer ihn anzustarren. Wie in Trance getaucht, ist seine Frage vollkommen an ihr vorbei gegangen. „Hallo! Erde an Emilia!" Sie blinzelt. „Äh...was...?" Grusha stöhnt einmal leise. „Im linken Tunnel ist eine Sackgasse, also schau ich mir mal den mittleren an. Warte einfach noch kurz hier und versuch nicht wieder gleich in Panik auszubrechen." Mit diesen Worten lässt er sie erneut alleine und ist im nächsten Tunnel verschwunden. Emilia hat dazu nichts sagen müssen. Alleine ihr Gesichtsausdruck hat gereicht, um ihm jede menge Infos mitzuteilen. Grusha mag durchaus eine unterkühlte Persönlichkeit haben, doch er ist kein selbstsüchtiges Arschloch. Diese finsteren Gedanken hat er längst in der hintersten Schublade seines Denkapparates verbannt. Nach mehreren Atemzügen, hat sich Emilia wieder aufgerappelt. Während sie auf Grusha wartet, versucht sie dem leisen Flüstern der Todesangst nicht zuzuhören. Auch diesmal kommt er nach nur wenigen Minuten zu ihr zurück.

„Weiter hinten spaltet sich der Weg erneut entzwei. Ich geh noch schnell in den rechten Tunnel." Ohne weitere Worte fegt er auch schon davon. Erneut bleiben nur Emilia und die stille Dunkelheit zurück. Im rechten Tunnel wird der Profi Snowboarder vor ein Problem gestellt, denn der Weg spaltet sich erneut. „...Scheiße..." Er schaut sich kurz den Ladestatus des Akkus an. „Nur noch fünf Prozent..." Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, wird dieses Abenteuer nicht gut ausgehen. Doch er hat keine andere Wahl, weshalb er zuerst nach links geht. Besonders weit ist er da allerdings nicht gekommen, denn bereits nach fünf Metern ist Schicht im Schacht. Bleibt also nur noch der rechte Weg. Emilia wird nervös, da Grusha diesmal länger weg ist. Sie beißt sich auf der Unterlippe herum, da die imaginäre Stimme in ihrem Kopf immer lauter wird. Schon zum zweiten mal fällt ihr das Atmen schwer. Auch der Puls erhöht sich. Doch der darauffolgende Schreck, lässt sie zusammen zucken. Grusha kommt direkt auf sie zugerannt, um sie an der Hand hinter sich herzuziehen. „Hey, was ist los?!"

Die Antwort folgt auf dem Fuße, denn ihr Begleiter richtet den hellen Lichtstrahl auf ein ziemlich großes Objekt. „Was ist das denn für ein Ding?"
„Der Stromgenerator! Ich dachte mir fast, dass er nicht weit weg ist. Jetzt müssen wir ihn nur noch zum Laufen bringen."
„Und wie macht man das?"
„In der Regel werden solche Generatoren mit Benzin angetrieben."
„Benzin, das wir nicht haben!"
„Das stimmt nicht. In der Ecke dort hinten steht ein Kanister, der noch über der Hälfte gefüllt ist. Allerdings brauche ich deine Hilfe dafür. Ich brauche beide Hände, um das Benzin in den Tank füllen zu können." Grusha drückt ihr das Mobiltelefon in die Hand. Sofort zerrt er den schweren Kanister aus seiner Ecke heraus. „Was soll ich tun?"
„Leuchte das Einfüllloch vom Tank an." Grusha öffnet den Kanister. Sofort weht ihm ein brennender Geruch von einem fiesen Dieselgemisch entgegen.

Der Sportler muss sich anstrengen, um den schweren Kanister überhaupt heben zu können. Er stößt einen Fluch aus, da nicht einmal er solches Gewicht so einfach stemmen kann. Es klappt erst nach dem dritten Versuch, sodass der wertvolle Brennstoff endlich in den vorhergesehenen Tank fließen kann. Achtlos schmeißt Grusha den leeren Kanister in die Ecke zurück. Er klappt die Einfüllklappe wieder zu und nimmt ihr das Handy ab. „Okay, mal sehen..." Besonders viele Knöpfe hat der Generator nicht, also sollte der Startknopf leicht zu finden sein. In der Tat lässt sich nach wenigen Atemzügen ein großer, roter Knopf ausmachen, der definitiv als Aktivierungsmaßnahme gekennzeichnet ist. Grusha zögert keine Sekunde länger und will den Generator zum Laufen bringen. Kurz jault der Motor der monströsen Maschine auf, erlischt aber sogleich wieder. „Was?!" Emilia rutscht das Herz in die Hose. „Vielleicht braucht er einen Moment. Versuch es nochmal." Grusha drückt erneut auf den Knopf mit dem gleichen Ergebnis.

Der Motor will einfach nicht starten. „Er springt einfach nicht an..." Die Aschblonde schaut auf ihren Ladestatus. „Nur noch 2%..." Nun drückt sie selbst etwas länger auf den Knopf. Doch auch sie kann den Generator nicht umstimmen. In der Höhle bleibt es dunkel. Grusha stößt ein paar Flüche aus. „...Das war es dann...wir sind verloren..." In dieser Sekunde, hat der Profi Snowboarder das letzte bisschen Hoffnung im Keim erstickt. Am liebsten würde er sich einfach hinlegen, einschlafen und nicht mehr aufwachen. Schließlich passiert, was sie solange wie nur möglich hinausgezögert haben. Das Licht ihres Mobiltelefons erlischt. Der Akku ist restlos aufgebraucht. Als ob sie von einer Sekunde auf die andere blind geworden wären, stehen sie völlig ohne Licht im Dunkeln da. „Du hast keine Knicklichter mehr, oder?"

Als ob das noch etwas bringen würde. „Vielleicht eines wenn wir Glück haben." Grusha nimmt ihren Rucksack ab und bittet sie danach zu suchen. Doch zu ihrem Pech, findet sie keine mehr. Mit jeder Minute die vergeht, jedem Handgriff, jedem Atemzug, wird ihre Hoffnung immer kleiner, bis sie schließlich komplett erloschen ist. Sie haben kein Licht, weder Nahrung noch warmes Wasser und diese Eiseskälte wird sie langsam und qualvoll umbringen. Emilia kann nicht mehr. Sie fängt erneut an zu schluchzen und lässt ihren Tränen freien lauf. „...Ich hätte auf meine Mutter hören sollen...warum hab ich ihr nie zugehört?" Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. „Ich wünschte, ich hätte diese Reise niemals gemacht. Dann würden wir beide jetzt nicht hier unten sitzen und auf unseren Tod warten." Grusha hat ihr schweigend zugehört. Er stöhnt schließlich einmal leise. „Emilia, ich..." Er ist ja auch nicht ganz unschuldig an dieser Situation. Er beginnt blind nach ihr zu suchen und bekommt ihren gebrochenen Arm zu fassen. Vorsichtig kommt er näher, um sie in den Arm zu nehmen. „...Wir sind beide Schuld daran...nicht nur du alleine..."

Es ist schön, dass Grusha auch mal etwas Herzenswärme zeigt, doch sein Trost bringt ihr nun auch nichts mehr. Stattdessen schlingt sie einfach nur ihren gesunden Arm um ihn und heult sich an seiner Schulter die Augen aus. Währenddessen sagt er einfach nichts. Irgendwann verlöscht ihr Klagelied, da sie schlichtweg einfach keine Kraft mehr zum weinen hat. Emilia hält ihre Augen geschlossen. Es ist das erste mal, dass sie ihm so nahe ist. Zumindest was ihre volle geistige Anwesenheit betrifft. Auf abstrakte Art und Weise, empfindet sie seinen Körpergeruch als sehr angenehm. Es erinnert sie an Schneeglöckchen, Krokusse und frisch bepflanzte Felder. Sein lieblicher Duft ist das komplette Gegenteil von seiner Persönlichkeit. Plötzlich reißt Emilia die Augen wieder auf. Ihr ist auf einmal ein Gedankenblitz gekommen, sodass sie sich eilig von ihm löst. „Das Gegenteil!", jault sie überrascht. „Hää?!" Grusha ist verwirrt. „Kannst du nochmal versuchen den Motor zu starten?"
„Wieso? Das bringt doch nichts..."
„Mach es einfach..."

Er zuckt unsichtbar mit den Schultern und geht den roten Startknopf erfühlen. Genau wie bei den letzten Versuchen, heult die Maschine auf, startet aber nicht. „Nochmal", verlangt sie. Als Emilia noch ein Kind war, hat sie ihrem Vater oft bei Reparaturarbeiten zugeschaut. Manchmal hat die alte Bohrmaschine gestreikt, was mit einem kräftigen Schlag aber leicht behoben werden konnte. Bis jetzt haben es die beiden nur mit Vernunft versucht. Doch wenn der Generator wirklich schon so alt ist, dann muss man ihn vielleicht einfach mal ein bisschen mit brachialer Gewalt ermuntern. Als Grusha einen weiteren Startversuch unternimmt, kann er plötzlich einen lauten, dumpfen Aufprall hören. Dem Geräuschpegel nach, muss Emilia die alte Maschine getreten haben. Und es hat Wirkung gezeigt, denn wenige Sekunden später heult der Motor laut auf und beginnt zu arbeiten. „Er läuft! Aber wie hast du...nein...ist egal..." Ein übler Geruch von stinkenden Abgasen breitet sich aus.

Das wertvolle Benzin wandert in den Verbrenner und wird dort in Energie umgewandelt. Endlich kommt der Stromgenerator seiner einzigen Aufgabe nach. Er jagt die gewonnene Elektrizität durch die kilometerlangen Kabel und bringt die angebrachten Glühbirnen zum leuchten. Das ungleiche Duo muss kurzzeitig ihre Augen abschirmen, da sie wie von einem Sonnenblitz durch die plötzliche Helligkeit geblendet werden. Erst nach mehreren scheuen Blinzelversuchen, haben sich die empfindlichen Sehorgane an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt. Emilia's Augen sind vom vielen Weinen noch gerötet. Es kommt ihr wie eine Ewigkeit vor, dass sie seine kristallklaren eisblauen Seelenspiegel zuletzt gesehen hat. Auf Grusha's Wangen legt sich ein rötlicher Schimmer. Man kann ihm seine aufkeimende Hoffnung richtig ansehen. „...Sieht so aus, als ob dein kleiner Wutanfall soeben unser Leben ein kleines bisschen verlängert hat. Aber woher wusstest du, dass du die Maschine treten musst?"

„Das habe ich einer liebevollen Erinnerung an meinem Papa zu verdanken. Seine alte Bohrmaschine hat zu Verstopfungen geneigt, also hat er ein paarmal drauf geschlagen und sie ging wieder. Wahrscheinlich hat die alte Kiste hier innerlich Rost angesetzt und der hat sich durch den Tritt gelöst. Nur weil eine Maschine alt ist heißt das nicht, dass sie nicht mehr funktioniert. Manchmal braucht sie einfach etwas Starthilfe." Grusha wirft ihr einen anerkennenden Blick zu. „Der Punkt geht an dich. Wir sollten keine Zeit mehr vertrödeln. Lass uns weitergehen, immerhin läuft der Generator auch nicht ewig." Sie verlassen den Tunnel und kehren in die Dreifaltigkeitshöhle zurück. Nun wo sie endlich wieder Licht haben, geht es auch Emilia deutlich besser. „Tut dein Arm sehr weh?"

„Es geht. Die Wunde am Kopf macht mir mehr zu schaffen." Nun wo die drei Wege hell erleuchtet werden, wirken sie auch nicht mehr so angsteinflößend. „Was denkst du, wie weit die Lampen gehen?"
„Keine Ahnung, aber der Montanata ist ziemlich groß. Wenn der alte Bergstollen recht weitläufig sein sollte, wird das mit Sicherheit nicht der einzige Generator sein." Emilia hofft, dass sie nun endlich einen Ausgang finden und dann dringend nötige Hilfe erhalten. Sie träumt schon von einem heißen Kakao und einem Stück Erdbeertorte. „Ich will dich ja echt ungern aus deinen Träumereien reißen. Aber lass uns endlich gehen." Sie errötet ein bisschen und schenkt ihm ihre volle Aufmerksamkeit. „Ja, okay. Lass uns gehen." Mit neuer Hoffnung in den Leibern, betreten sie in den mittleren Tunnel, um dessen unentdecktes Geheimnis zu lüften.


Eiskalt erwischt (Abgebrochen)Where stories live. Discover now