Begraben unter Eis und Schnee

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Stille hat sich ausgebreitet. Das fahle Sonnenlicht hat nachgelassen. Grusha versucht Emilia seit zwei Minuten wach zu rütteln. Sie steht vollkommen neben sich. Nach dem Absturz, hat die junge Frau kurzzeitig das Bewusstsein verloren. „...Komm schon...reiß dich zusammen..." Seine Hartnäckigkeit wird belohnt, denn Emilia schlägt endlich die Augen auf. „...Was...?" Sie blinzelt mehrmals und ist vollkommen verwirrt. „...Grusha...was...ist passiert...?" Er stöhnt einmal erleichtert. „...Wir sind abgestürzt...weißt du das nicht mehr?" Emilia hat sich irgendwo den Kopf angeschlagen. Deswegen ist sie auch bewusstlos geworden. Eine leichte Gehirnerschütterung macht da die Situation nicht besser. „...Leben wir noch...?"

Der einschießende Schmerz klärt die Frage und holt sie zugleich in die Realität zurück. „Aua...!" Emilia muss sich den Ellbogen geprellt haben. Zwar kann sie ihren Arm noch bewegen, doch es schmerzt dabei. „Mist...jetzt erinnere ich mich wieder. Alles okay bei dir?" Grusha sieht noch immer besser aus als sie. „...Nur ein paar Kratzer..." Sofort richten sich seine eisblauen Augen nach oben. „Wir hatten extremes Glück, dass der Berg gleich abgeflacht ist und wir mehr gerutscht als gefallen sind. Anderenfalls wären wir jetzt wohl tot..." Trotz seiner Erklärung, peilt sein eiskalter Blick etwas anderes an. „Mein Rucksack..." Die wertvolle Tasche ist auf einem Vorsprung hängen geblieben.

„Wir müssen sie zurückholen...vielleicht ist etwas nützliches darin..." Kommt das Emilia nur so vor, oder ist er weniger kalt als vorher? Nee, das muss sie sich bestimmt einbilden. „Und wie sollen wir das deiner Meinung nach anstellen? Wenn du nicht hinkommst, komme ich gleich zweimal nicht hin." Immerhin ist Grusha einen Kopf größer als sie. „...Tja...wie wohl...?" Da ist er wieder – der gefühllose Eisklotz. Statt auf ein Gegenargument zu warten, zeigt der Profi Snowboarder es ihr einfach. Er stellt sich hinter sie, geht auf ein Knie und steckt seinen Kopf zwischen ihre Beine. „Grusha, was zur Hölle?!" Ein Schrei folgt, als er sich aufrichtet und sie nun auf seinen Schultern sitzt. „...Beeil dich...ich kann dich nicht lange halten..." Emilia schluckt einmal bitter. Gott, ist ihr das peinlich. Doch sie kann jetzt nicht herum flennen, sondern fängt an nach ihrem Rucksack zu greifen.

„Nur noch...ein kleines Stückchen..." Grusha stemmt sich an die Wand und stellt sich auf die Zehenspitzen, während Emilia sich lang macht. „...Komm schon..." Der junge Mann bläst einmal kräftig die verbrauchte Luft aus den Lungen aus. Emilia beißt die Zähne zusammen und wagt einen letzten Fangversuch. „Hab ihn!" Sofort lässt er sie wieder runter. „Hmpf...eigentlich habe ich von einem Sportler mehr erwartet. Bin ich dir zu schwer, oder bist du einfach nur zu schwach?"

„...Willst du darauf wirklich eine Antwort...?" Emilia errötet. Mit ihr sind gerade wieder die Pferde durchgegangen. „Tschuldigung..." Manchmal ist es einfach besser den Mund zu halten. „Was ist eigentlich mit dem Abhang da drüben? Besonders steil sieht er ja nicht aus. Vielleicht können wir hochklettern?" Grusha schüttelt den Kopf. „Das habe ich schon mehrmals versucht. Das Gestein ist einfach zu stark gefroren. Ich bin immer wieder abgerutscht, also müssen wir einen anderen Ausgang finden..."

Die Hoffnung stirbt zum Schluss. Also versucht es Emilia selbst einmal, nur um auf das gleiche Ergebnis zu kommen. „Oh, nicht doch..." Ihre letzte Hoffnung liegt in ihrem Rucksack. Sie öffnet ihren treuen Reisegefährten und sieht nach, was noch an Proviant vorhanden ist. „...Wow...da habe ich mich ja glatt zurückgehalten...", sagt sie sarkastisch. Es sind nur noch ein Schinkensandwich, eine Packung Schokoladenkekse, eine Hand voll tiefgefrorener Beeren und eine zweite Thermoskanne voll heißen Tee vorhanden. „Krass – die hab ich ja total vergessen..." Emilia zieht den Deckel ab und gießt eine Portion heißen Tee hinein. Sofort steigt in der eisigen Kälte Dampf auf. „...Besser als gar nichts...", meint Grusha darauf. Sie müssen mit den wenigen Sachen sparsam umgehen. Immerhin weiß niemand, wo der nächste Ausgang ist. Aus diesem Grund, teilen sie sich nur ein paar Schokoladenkekse und trinken jeweils einen halben Deckel von dem heißen Tee.

Die immense Temperatur weckt für kurze Zeit die Lebensgeister der beiden. Emilia grinst. „Du siehst ja nicht besonders glücklich aus. Stimmt etwas nicht?" Tapfer steckt sich Grusha den letzten Keks in den Mund. „...Ich mag keine Süßigkeiten..." Emilia schaut ihn dümmlich an. „...Echt jetzt?" Er ist der erste Mensch der sagt, dass er keine Süßigkeiten mag. „Und was war dann neulich mit dem Pfannkuchen?"

„Die waren herzhaft und nicht süß...lass uns gehen...wir müssen einen Ausgang finden, bevor wir zu Eiszapfen erstarren." Plötzlich erlebt Emilia einen Gedankenblitz. Sie kramt erneut in ihrem Rucksack herum, um ihr Mobiltelefon herauszuholen. Doch die neue Hoffnung wird Sekunden später schon wieder im Keim erstickt. „Der Akku ist leer..." Na großartig – so nützt ihr das Ding überhaupt nichts. „Hast du keines?"

„...Nein...", antwortet er knapp. „Wieso nicht?"
„...Zu viel Ablenkung..." Super! Einfach großartig. Sie sind begraben unter Eis und Schnee und haben keine Fluchtmöglichkeit. „Was soll's, wahrscheinlich hätten wir eh keinen Empfang gehabt. Langsam werden ihre Hände eiskalt. Emilia fängt an sie aneinander zu reiben. Grusha stöhnt einmal lautlos. Er zieht sich seine Handschuhe aus und hält sie ihr hin. „Nimm..." Beeindruckt und verunsichert, blickt sie ihn an. „Aber...was ist mit dir?" Er drückt ihr die Handschuhe entgegen und steckt seine Hände zurück in seine Jackentaschen. „...Ich bin an Kälte gewöhnt und stecke sie besser weg als du..." Sofort presst die junge Frau die Lippen fest zusammen. „...Danke...", sagt sie und zieht sich seine Handschuhe an. Sie sind ein bisschen zu groß, doch zumindest wärmen sie ihre kalten Hände etwas. Hier unten ist relativ dunkel. Daher sieht man auch nicht so gut. „Also...", hebt Emilia nach einer Weile an. „...Und jetzt?" Hier spaltet sich der Weg. Sie müssen sich für einen Gang entscheiden. Grusha überlegt. Er denkt darüber nach in welchen Tunnel sie gehen sollen. „Hey, was machen wir denn...-" Er hält ihr mit seiner kalten Hand den Mund zu. „Sei still..." Am liebsten würde sie ihm eine Standpauke halten. „...Wir gehen nach links...", sagt er. „Wieso ausgerechnet nach links?"
„...Wirst du dann schon sehen...", sagt er mit kalter, monotoner Stimme.


Eiskalt erwischt (Abgebrochen)Where stories live. Discover now