Wie gewonnen so zerronnen

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Ein weiterer Blick auf die digitale Handyuhr verrät Emilia, dass seit ihrem Aufbruch eine Stunde vergangen ist. Sie hat gefühlt alle fünf Minuten die aktuelle Uhrzeit überprüft. „Ich muss schon sagen, besonders weit sind wir ja nicht gekommen." Emilia kann in der Dunkelheit das Leuchten von Grusha's Knicklicht sehen. Besonders viel Helligkeit gibt das kleine Ding wirklich nicht ab, doch zumindest können sie die Position des jeweils anderen ausmachen. Grusha tastet sich an der Wand entlang. Seine Begleiterin hat für einen Moment nicht aufgepasst, weshalb sie direkt in den Rucksack rennt, den er für sie trägt. „Hey, was ist los? Wieso gehst du nicht weiter?"

Der Profi Snowboarder murrt einmal leise. „...Hier ist Ende im Gelände...", sagt er schroff. „Was?!" Emilia drängt sich an ihm vorbei und tastet das kalte Hindernis ab. Sie hat keine andere Möglichkeit mehr, weshalb sie die Taschenlampe an ihrem Mobiltelefon aktiviert. Grusha blinzelt. Die plötzliche Helligkeit hat ihn so überrascht, dass sich seine Pupillen stark zusammenziehen. Seine eisblauen Augen brauchen einen kurzen Moment, um sich an die Lichtverhältnisse anzupassen. Zumindest bekommen sie dadurch eine Bestätigung. „Sackgasse..." Hier geht es nicht weiter. „...Lass uns umdrehen..."

„Habe ich denn eine andere Wahl?" Emilia schaltet die Taschenlampe wieder aus. Man kann ihr die schlechte Laune richtig ansehen. „...Hör auf zu jammern...das bringt dir auch nichts..." Anscheinend hat sie Grusha angesteckt, denn der Eisklotz ist gerade dabei sich in einen Miesepeter zu verwandeln. „Ach, halt einfach die Klappe...", knurrt Emilia. Grusha sagt darauf nichts, sonst wird alles nur wieder eskalieren. Angenervt treten sie den Rückzug an, um sich dort an den nächsten Tunnel heranzutasten. Die Aschblonde umarmt sich selbst. „K...kalt...", stottert sie. Grusha verdreht die Augen. Er fragt sich gerade, ob er mit oder ohne sie besser dran wäre. Keine Frage – dann würden der Tee und das Sandwich deutlich länger reichen. Seine eigenen Überlebenschancen wären deutlich höher, wenn er beides nicht mit ihr teilen müsste.

Daher denkt er tatsächlich darüber nach, ihr einfach das Handy zu entreißen und zusammen mit ihrem Rucksack einfach abzuhauen. Immerhin ist sie Schuld daran, dass er überhaupt in diese Lage gekommen ist. Daher dreht er sich zu ihr um und beobachtet das Leuchten ihres Knicklichtes. „...Hey...", sagt er leise. „Kannst du...mir die Uhrzeit sagen...?" Emilia ist verwundert, dass er sich überhaupt dazu herablässt sie um Hilfe zu bitten. „Klar", antwortet sie und fischt das Telefon aus ihrer Jackentasche heraus. Grusha's rechte Hand zuckt einmal. Er wartet den richtigen Moment ab, um das Handy in seine Gewalt zu bringen. Emilia drückt auf die Sperrtaste, um die Uhrzeit vom Display ablesen zu können. Jetzt! Das ist seine Chance! Er will blitzschnell nach dem leuchtenden Gegenstand greifen, doch seine Nervenimpulse versagen.
Seine kalten Finger verkrampfen sich im Handschuh und seine Hand erzittert. „Es ist 01:47Uhr", sagt sie. Emilia lächelt ihn an. Allerdings vergeht ihr das ganz schnell wieder. In der kurzen Helligkeit des Displays hat sie sein angespanntes Gesicht gesehen. Es strahlt Frust und Bitterkeit ab. „Grusha, ist alles okay bei dir?" Seine zitternde Hand entspannt sich wieder. „...Ja...", gibt er trocken zurück. „...Gehen wir weiter..." Er dreht ihr den Rücken zu und nimmt die Führerrolle wieder ein. In der erneuten Dunkelheit haben sich seine Augenbrauen gekräuselt. 'Verdammt nochmal, was war das?'

Sein völlig übermüdetes Gehirn hat ihn an sein schlechtes Gewissen erinnert. Ob er wirklich ein Leben lang damit klar kommen will, am Tod eines anderen Menschen schuld zu sein. Grusha erkennt sich überhaupt nicht wieder. Es sieht ihm kein bisschen ähnlich, solch finstere Gedanken zu haben. Tief in seinem Inneren schämt er sich ein wenig dafür, dass er Emilia wirklich opfern wollte, nur um seine eigene Haut zu retten. In seinem Kopf bildet sich ein Gedankenkarussell. Völlig wirr und ungeordnet, fliegen sie wie ein Schwarm an aufgescheuchten Schmetterlingen unkontrolliert in alle Richtungen davon. Ein anderes Geräusch holt ihn wieder in die Realität zurück. Grusha bleibt sofort stehen. Er kennt dieses Geräusch nur zu gut. Emilia schaltet sofort die Taschenlampe wieder an. Ihr ist alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. „...Nicht schon wieder...", wimmert sie. Da ist es schon wieder. Das reißende, brechende Geräusch. Emilia erinnert sich noch sehr gut an das letzte mal und das ist noch gar nicht solange her. Es knackt ein weiteres mal. Sie haben keine Zeit mehr. „Lauf!"

Grusha nimmt sie an die Hand und rennt mit ihr um sein Leben. Keine zwei Sekunden später beginnt das Eis unter ihnen einzubrechen. „Schneller, beeil dich gefälligst!" So viel Lebendigkeit hat sie noch nie in seiner Stimme gehört. Völlig geistesgegenwärtig, hat sie die Kontrolle über ihre Beine verloren. Alleine aus einem Überlebensinstinkt heraus ist Emilia überhaupt noch in der Lage ihm zu folgen. „Da vorne kommt eine Abzweigung, welchen Weg sollen wir nehmen?"

„Keine Ahnung, sag du es mir!" Grusha nimmt ihr das Handy ab und leuchtet mit der Taschenlampe in beide Gänge hinein. Das brechende Eis hat sie fast eingeholt, weshalb er keine Sekunde zögern darf. Verdammt – wenn er sich falsch entscheidet, kann es beiden das Leben kosten. Daher schließt der Profi Snowboarder für einen Moment die Augen und hört auf sein inneres Bauchgefühl. Kurz bevor sie die beiden Tunnel erreicht haben, zieht er nach rechts. Emilia stolpert ihm hinterher. Zu seinem Glück, bricht das knackende Geräusch ab. Sie haben wieder festen Boden unter den Füßen. Schwer erleichtert, fällt die Aschblonde auf ihren Hintern zurück. Ihr Herz schlägt ihr wild gegen die Brust. Sie atmet schnell und unkontrolliert, während der Schreck noch richtig tief in ihren Gliedern steckt. „...Heilige Scheiße...wir wären fast wieder abgestürzt..." Grusha geht näher an den Rand und leuchtet nach unten. „...In dem Fall, wäre das sogar etwas Gutes gewesen..."

„Hää?!" Emilia kommt näher heran und schaut was er damit meint. „...Sieh dir das an..." Unter dem zerbrochenen Eis haben sich die ganze Zeit mehrere Abhänge und Plattformen versteckt. „...Lass uns nach unten gehen...", meint er. „Hast du Hirnfrost? Du verlangst von mir, dass ich da runter gehe?"
„...Wieso nicht? Denk doch mal logisch nach...je tiefer wir kommen, umso größer ist die Chance einen Ausgang zu finden." Immerhin sind sie relativ hoch in den Berg eingebrochen. Emilia schluckt einmal. Sie hat Angst und will das nicht zugeben. „Nein, ich will nicht!" Grusha zuckt mit den Schultern. „...Wie du willst, dann gehe ich eben ohne dich weiter." Die begehrte Taschenlampe hat er schließlich doch noch in seine kalten Griffel bekommen. Sie macht ein erstauntes Gesicht. „Du kannst mich doch nicht einfach alleine zurücklassen."

„...Du siehst doch, dass ich es kann...", sagt er kalt und springt auf die erste Plattform. Es knirscht ein wenig, ansonsten hält sie sein Gewicht aus. „Sag mal, willst du mich verarschen? Grusha, das ist nicht lustig. Komm sofort wieder zurück." Er leuchtet nach oben und schaut sie an. „...Kommst du jetzt, oder nicht?" Emilia verzieht das Gesicht und dribbelt auf der Stelle herum. „...Gut, dann bleibst du eben hier...ich bin dann mal weg..." Er leuchtet den Weg ab und springt auf die nächste Plattform. Das helle Leuchten der Taschenlampe wird auch immer weniger, da sich Grusha immer weiter von ihr entfernt. „....Dieses Arschloch..." Wenige Atemzüge später, kann er das rutschende Geräusch über Gestein hören. Sie fiept einmal leise und wäre beim zweiten Sprung fast neben der Plattform und somit im dunklen Schacht gelandet. „Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden, du altes Ekel", faucht sie. „Wie kann man nur so extrem kaltherzig sein?" Grusha zuckt mit den Schultern. „...Hat aber funktioniert..."

Emilia schaut ihn saudumm von der Seite an. Sie hat soeben begriffen, dass er sie mit Absicht provoziert hat, um sie nach unten zu bekommen. Eine dicke Wutader fängt an, an ihrer Schläfe zu pochen. „Du elender, kleiner Drecksack...", zischt sie. „...Wie gesagt...es hat funktioniert..." Sofort leuchtet er weiter nach unten, um die nächste Plattform zu finden. Grusha schätzt die Entfernung der beiden Platten ab. Emilia ist noch immer nicht davon begeistert, dass er sie dazu gezwungen hat. Schließlich fixiert er sein nächstes Ziel an. „Vergiss es, den Sprung schaffe ich nicht..." Sie hat noch immer Angst. Doch drücken kann sie sich nicht mehr. „...Du bist sehr wohl in der Lage, die nächste Plattform zu erreichen. Das sagst du nur, weil du Angst hast...also stell dich nicht so an..." Emilia bläst die Wangen auf. „Du hast leicht reden, du hast ja auch kräftigere Beine als ich..." Es stört sie ungemein, dass Grusha ständig ihren wertvollen Strom durch die Taschenlampe verschwendet. „...Hör auf zu nerven, sonst schubs ich dich runter..."

„Das wagst du nicht...", knurrt sie. In der nächsten Sekunde, starrt er sie mit einem eiskalten Blick an. „...Bist du dir da auch ganz sicher...?" Emilia schluckt einmal bitter. Sie versucht mit aller Kraft seinem Blick standzuhalten, was bei dieser Herzenskälte nicht unbedingt einfach ist. „...Ich..." Plötzlich ist sich die Aschblonde doch nicht mehr so sicher. Ein Sprichwort sagt: In der Not frisst der Teufel Fliegen. Denn sie ist in der Tat auch schon auf die Idee gekommen, dass Grusha sie insgeheim am liebsten loswerden will, und kurzerhand mit ihren Habseligkeiten durchbrennt. „...Los...wir müssen weiter..." Emilia schaut nach unten. Sie zögert. In der Stille der Dunkelheit grinst sie ein schwarzer Schlund an, dessen Ende man nicht sehen kann. Auf einmal werden ihre Knie ganz weich. Ihre Beine verwandeln sich in Pudding und sie ist nicht mehr in der Lage zu gehen.

„Ich...ich kann mich nicht bewegen..." Sie robbt an die Wand zurück. „...Ich...hab total Angst..." Ihr Herzschlag erhöht sich, während bei ihr Stresshormone freigesetzt werden. Grusha massiert sich die Schläfen. Dann stöhnt er. „...Gib mir deine Hand..." Emilia schaut auf den Fäustling. Sie zögert. Was wenn das eine Falle ist und er sie wirklich hinunter stoßen will? „...Na komm, wir springen zusammen..." Die Aschblonde zögert noch einen Moment länger, ergreift seine Hand dann aber doch. „...Gut...und jetzt atme noch einmal tief durch..." Emilia versucht ihr Herz zu beruhigen. Sie schnauft einmal tief durch und steht dann wieder auf. „...Bereit...?"

„Wenn ich Nein sage, würde das was an deinem Vorhaben ändern?"
„Nicht wirklich..."
„Dachte ich mir..."
Sie will es einfach nur hinter sich bringen. Grusha zählt bis drei. Dann nehmen sie Anlauf und springen im selben Moment von der Plattform ab. Dabei kann sie einen Schrei nicht unterdrücken. Zwei Sekunden später, kommen sie laut stampfend auf dem schneebedeckten Vorsprung auf. „...Na siehst du...geht doch..." Ihr Herz schlägt noch ganz schnell. Doch sie hat es geschafft. „...Oh Gott...", stöhnt sie. Nach einem kurzen Schreckmoment, leuchtet der Profi Snowboarder nach der nächsten Plattform. „...Die ist nicht so weit weg..." Sie nickt einmal. „Ich glaube, die schaffe ich alleine."

Es ist Emilia sowieso peinlich, dass sie mit ihm Händchen halten musste, um etwas tiefer zu kommen. Grusha leuchtet ihr die Plattform aus, während die junge Frau den nötigen Anlauf nimmt. Diesmal hat sie die Distanz gut eingeschätzt. Doch merkt Emilia sofort nach der Landung, dass etwas nicht stimmt. Der komplette Vorsprung ist mit dünnen Eis bedeckt, sodass sie sofort den Halt verliert. „Emilia, pass auf!" Ein heißer Schrei hallt durch den Abgrund, als Emilia wie auf einer Eisbahn über das Ziel hinausschießt. „Grusha, hilf mir!" Sie hat noch den Arm nach ihm ausgestreckt, bevor sie fallend von der Dunkelheit verschluckt wird und in die Tiefe stürzt. Ein letztes mal kann sie seinen Namen rufen. Dann wird es still. „EMILIA!!!"


Eiskalt erwischt (Abgebrochen)Where stories live. Discover now