Winterliche Bergpfade

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Emilia hat sich vor wenigen Minuten mit ihrem ausgesuchten Frühstück an einen freien Tisch gesetzt. Sie hat die erste Nacht erfolgreich hinter sich gebracht. Eigentlich hatte die junge Frau schon Bedenken nicht schlafen zu können, doch sie hat geschlummert wie ein Stein. In einem fremden Bett zu übernachten ist immer etwas anderes als im eigenen zu schlafen. Sie nimmt einen Schluck von ihrem Morgenkaffee und beißt in ihr Brötchen, während sie gleichzeitig in einen ausgebreiteten Lageplan schaut. „Mal sehen..." Emilia überprüft gerade welchen Weg sie heute ablaufen kann. Glücklicherweise soll das Wetter schön bleiben. In einem Schneesturm zu wandern, findet sie nämlich nicht so lustig. Emilia kann sich noch gut daran erinnern, dass sie damals in Freezedale von einem überrascht wurde. Dabei hatte sie sich damals auch eine schöne Erkältung eingefangen. Das ist sicher auch ein Grund mit, warum ihre Mutter so überfürsorglich ist.

Wieder folgt ein Schluck von ihrem Kaffee. „...Soll ich hier entlang, oder doch eher diesen Pfad nehmen...?" Sie ist so mit ihrer Karte beschäftigt, dass sie vor lauter Ablenkung gar nicht die Person bemerkt, die sich soeben zu ihr an den Tisch gesetzt hat. Hungrig beißt sie wieder von dem Brötchen ab. „...Verdammt...ich hätte doch länger buchen sollen...", murmelt sie leise. Emilia kann sich einfach nicht entscheiden. Dabei soll die Besteigung des Montanata doch der Höhepunkt ihres Kurzurlaubes sein. Sie stöhnt einmal frustriert und lässt die Karte sinken. Gerade wollte sie nach ihrer Tasse greifen, als sie plötzlich und völlig unerwartet in ein eisblaues Augenpaar schaut. Grusha sitzt einfach nur da, sieht sie an und verdrückt nebenbei einen fluffigen, warmen Pfannkuchen. Emilia runzelt die Stirn. Wieso hat sie ihn nicht bemerkt? Für einen Moment überlegt sie, ob sie etwas sagen soll, entscheidet sich dann aber dagegen. Sie steckt ihre Nase wieder in den Lageplan und tut so, als ob er gar nicht da wäre.

„...Du wolltest doch etwas mit mir essen...", bricht er irgendwann das Schweigen. So viel zum Thema, sie würde diesen Hohlkopf eh nie wieder sehen. Der muss vielleicht Nerven haben. Ihr erst einen Korb geben und dann so dreist sein und sich unbemerkt an den gleichen Tisch setzen. „Du willst mich wohl ärgern!" Vor lauter Nervosität trinkt sie ihren Kaffee aus. „Nur damit du es weißt: Ich bin durchaus in der Lage ein Nein zu akzeptieren. Oder bist du hergekommen, um dein schlechtes Gewissen zu beruhigen?" Grusha antwortet nicht. Stattdessen steht er nur auf, um mit einem zweiten Pfannkuchen wieder zurückzukommen. Emilia seufzt einmal schwer. In binnen weniger Sekunden hat sie sich für eine Route entschieden und speichert diese in ihrem Handy im Navigationssystem ein. Unterwegs kann sie mit einer Landkarte nicht viel anfangen. Hätte sie mal besser in Geografie aufgepasst. Sie schlingt sich ihr Brötchen noch schnell rein, bevor sie alles wieder einpackt. „Ich bin dann mal weg, sonst schaffe ich meine Wanderung nicht. Tschö mit Ö."

Dann steht sie auf und geht. „...Verlauf dich nicht...", waren seine Abschiedsworte gewesen. Was für ein seltsamer Typ er doch ist. Auf der einen Seite kalt und abweisend und dann sowas? Emilia begreift nicht was Grusha damit erreichen will. Aber wahrscheinlich denkt sie komplizierter als es eigentlich ist. Bevor sie ihre heutige Wanderung antritt, schießt ihr auf einmal etwas anderes durch den Kopf. Sie schluckt einmal nervös. „Oh nein, bitte nicht..." Sie öffnet die verpassten Anrufe und stöhnt einmal leise. „Wieso überrascht mich das nicht?" Einundzwanzig Anrufe in Abwesenheit. Alle von ihrer Mutter. Emilia hat sie mit voller Absicht stumm geschaltet und nun bekommt sie die Quittung dafür. „Bringen wir es hinter uns..." Sie ruft ihre Mutter zurück. Es dauert keine drei Sekunden, als sie die wütende Stimme von Christa aus dem Telefon brüllen hört.

„Emilia! Warum bist du nicht an dein Telefon gegangen? Weißt du eigentlich, wie viel Sorgen ich mir um dich gemacht habe?" Die junge Frau ächzt einmal leise. „Mama, bitte...ich bin doch kein kleines Kind mehr. Ich bin durchaus in der Lage, auf mich selbst aufzupassen. Es geht mir gut, also mach dir nicht immer ständig Sorgen um mich. Das nervt." Es liegt in der Natur einer Mutter sein Kind ständig umhegen zu wollen. Man kann es aber auch übertreiben. Trotzdem darf sich die Aschblonde ein Donnerwetter anhören. „Das nächste mal kommst du einfach mit, vielleicht geht es dir dann besser. Ich lege jetzt wieder auf, bis später dann." Sie lässt Christa nicht einmal mehr zu Wort kommen, sondern beendet den Anruf einfach. „Oh mein Gott, ist mir das peinlich..." Zum Glück hat das niemand mitbekommen. Zumindest hofft sie das.

Nun will sich Emilia nicht länger ablenken lassen. Sie ruft ihr Navigationssystem auf, richtet ihren Rucksack und los geht's. Heute steigt sie dem Montanata Bergpfad hinauf. Das wird mit Abstand ein fantastisches Abenteuer, da ist sich die Aschblonde sicher. Immerhin hat sie Wandern schon als kleines Kind gemocht. Das muss sie definitiv von ihrem Vater haben. Emilia vermisst ihn schrecklich. Sie war noch so jung, als er verstorben ist. Der Gedanke an ihn lässt sie seufzen. Doch dann schiebt sie diesen zur Seite und beginnt den Bergpfad zu besteigen. Ihr weht ein kalter Wind um die Nase, weshalb sie ihren Schal auch etwas enger zieht. „Brrr...", macht sie es. Ganz schön frisch hier, doch die Aussicht und die saubere Luft ist ihr das wert. Nach einer Stunde wandern, hat Emilia eine Sitzgelegenheit gefunden. Sie ist ganz schön außer Puste und macht eine kleine Pause.

Aus ihrem Rucksack holt sie eine Thermoskanne, in dessen Deckel sie heißen Kakao gießt. Wenn es draußen kalt ist, schmeckt er so besonders gut. Dabei beobachtet sie den Skilift, der direkt neben dem Bergpfad hinauf läuft. Hin und wieder sitzt eine Person darin, die sich todesmutig die Piste hinabstürzen will. „Die haben vielleicht Nerven...", murmelt sie leise. „Ich würde mich das niemals trauen..." Gleichgewicht ist für Emilia ein Fremdwort. Als kleines Kind hat sie ziemlich spät das Laufen gelernt. Oder vielleicht sollte sie sich einfach mehr zutrauen. Plötzlich taucht Grusha auf dem Skilift auf. Der Eisklotz ist wieder auf dem Weg nach oben. Die Blicke der beiden treffen sich. Emilia will gerade ihren Kakao wegpacken, als er auf einmal kommentarlos auf seine Jackentasche zeigt. „Hää?! Was will der von mir?" Grusha wendet seinen Blick wieder ab. Derweil denkt Emilia darüber nach, was seine Geste bedeuten könnte.

„...Er hat auf seine Jackentasche gedeutet...soll ich etwa wirklich...?" Einen Versuch ist es wert. Also steckt sie ihre rechte Hand in die rechte Jackentasche. Nichts. Sie ist leer. Dann greift sie in die linke Jackentasche und kann darin tatsächlich etwas fühlen. Emilia holt es heraus. „Ein Notizzettel...?" Aber das ist doch völlig unlogisch. Wie soll es Grusha bitte geschafft haben, ihr eine Nachricht in die Jacke zu schmuggeln? Und vor allem: Warum? Natürlich! Als sie in die Karte geschaut hat. Da hat sie ihn gekonnt ignoriert. Emilia schluckt. Dann öffnet sie den Zettel und liest die Nachricht, die der Eisklotz ihr anscheinend hinterlassen hat.


Eiskalt erwischt (Abgebrochen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt