In der Eishölle

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Eine drückende Stille hat sich ausgebreitet. Grusha starrt in die Dunkelheit. Er muss erst einmal verarbeiten, was da gerade eben eigentlich passiert ist. Emilia ist abgestürzt und er ist Schuld daran. Nur weil er unbedingt nach unten wollte. „...Mein Gott..." Nach einer kurzen Starre, kommt sein Verstand wieder zurück. „Emilia?" Er ruft nach ihr, doch es folgt keine Antwort. „...Scheiße..." Grusha nimmt Anlauf, um selbst auf die vereiste Plattform zu springen. Sofort klammert er sich am Boden fest und strampelt wild mit den Beinen, um dem Rutschen auf dem Eis entgegenwirken zu können. „Komm schon..." Gerade noch rechtzeitig kann er sich wieder fangen. Nur wenige Zentimeter weiter und er wäre ebenfalls von der Plattform gefallen.

Vorsichtig dreht er sich um und leuchtet mit dem Handy nach unten. Emilia ist nicht tief gefallen. Vielleicht zwei oder drei Meter, da ein weiterer Vorsprung ihren Fall abgefangen hat. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie wie tot dort unten liegt und sich nicht mehr rührt. Grusha wird gerade von Schuldgefühlen zerfressen. Noch vor kurzem wollte er mit ihren Sachen abhauen, und nun hat sich sein Wunsch auf dramatische Weise erfüllt. Hastig leuchtet er die Plattformen ab. Er muss eine weitere anpeilen, um schließlich auf Umwegen zu Emilia zu gelangen. Kräftig springt er ab, um sich zu ihr auf die richtige Ebene zu befördern. „Emilia..." Sofort presst er sein Ohr auf ihren Brustkorb. „...Sie atmet noch..." Also ist sie nur bewusstlos und nicht tot. Grusha fällt ein Stein vom Herzen.

Er fängt an ihr kräftig die Wange zu tätscheln. „...Emilia...komm schon, wach auf..." Immer wieder verpasst er ihr lauter kleine Ohrfeigen. Keine Reaktion. Sie rührt sich nicht. „...Das ist nicht gut..." Der Profi Snowboarder will ihren Kopf gerade hinlegen und hat sofort Blut an den Handschuhen kleben. „Scheiße...", flucht er. Bei dem Aufprall, hat sie sich den Kopf gestoßen und verletzt. Aus einer Platzwunde fließt stetig dunkelrotes Blut heraus. Panik macht sich in ihm breit. Grusha atmet einmal tief ein und aus. Dann nimmt er sich den Rucksack ab. „...Bitte...hab eines dabei..." Mit der Handytaschenlampe leuchtet er in ihren Rucksack hinein. Zwar macht er das äußerst ungern, muss aber ihre privaten Sachen durchwühlen. „...Komm schon...bitte..." Normal sollte man auf Wanderungen immer eines dabei haben.

Grusha stellt angespannt die zwei Thermosflaschen heraus und legt das angebissene Sandwich daneben. Es fliegt viel Kleinkram in dem Wanderrucksack herum. „Nichts..." Nun knöpft er sich die zweite Kammer vor, wo er glücklicherweise doch noch fündig wird. „...Sie ist echt gut vorbereitet..." Er zieht ein Erste-Hilfe-Set heraus. Sofort überprüft er, was in dem kleinen Mäppchen alles enthalten ist. „...Okay...erinnere dich an deinen erste Hilfe Kurs..." Grusha klemmt sich das Handy zwischen die Zähne, während er seine Fäustlinge durch Einmalhandschuhe ersetzt. Mit einem Tupfer, entfernt er das überschüssige Blut, um an die Wunde heranzukommen.

„...Das wird jetzt richtig ungemütlich, Emilia, also bleib besser noch etwas länger ohnmächtig..." Grusha reißt die sterile Verpackung auf, die Nadel und Faden beinhaltet. Seine Nähkünste lassen wirklich zu wünschen übrig, doch für ein paar Stiche werden sie schon ausreichen. Das eigentliche Problem ist die Dunkelheit. Daher klemmt er ihren Kopf zwischen seinen Beinen ein, um mit einer Hand das Handy besser halten und somit auch besser sehen zu können. „....Entschuldige bitte..." Dann setzt er zum ersten Stich an. Die spitze Nadel bohrt sich durch ihr Fleisch und kommt auf der anderen Seite wieder heraus. Vorsichtig zieht Grusha den Faden durch den Stichkanal, um sogleich erneut anzusetzen. Stich für Stich wird die Wunde immer kleiner, bis sie gänzlich verschlossen ist. Er klemmt sich das Handy wieder zwischen die Zähne, verknotet den Faden und schneidet den Rest mit der kleinen, beiliegenden Schere ab. Das restliche Blut entfernt er nochmal mit einem Tupfer.

Als nächstes dreht er die kleine Wundheilsalbe auf. Diese wird gleichmäßig auf die frisch vernähte Wunde verteilt und zum Abschluss noch mit einem Abdichtpflaster verklebt. „...Geschafft..." Auch wenn seine Erste Hilfe nur unprofessionell stattgefunden hat, war es besser als gar nichts. Immerhin ist er Sportler und kein Arzt. Grusha war so auf die Kopfwunde fixiert, dass ihm ein weiteres Detail entgangen ist und es erst jetzt bemerkt hat. Ihr linker Unterarm liegt in einer völlig unnatürlichen Position da. Man muss kein Medizinstudium absolviert haben um zu wissen, dass er gebrochen ist. „...Na großartig..." Grusha beginnt in ihrem Rucksack herumzuwühlen, ob sie irgendetwas dabei hat, was er zum schienen zweckentfremden kann. Wirklich fündig wird er dabei allerdings nicht. Bis auf ein kleines Kuscheltier, ihre Geldbörse und ein Taschenmesser findet er nichts brauchbares im mehr Rucksack.

...Moment...das Taschenmesser! Es ist zwar klein, aber stabil genug, um den Bruch stabilisieren zu können. Als erstes muss Grusha die Bruchstelle finden. Er ist sich nicht ganz sicher, doch es scheint Speiche und Elle gleichermaßen erwischt zu haben. Immerhin kann er ihren Arm in wirklich seltsame Positionen drehen. Grusha blickt auf die Handyuhr. Es zeigt bereits 02:24Uhr an. Der Temperaturfühler teilt ihm mit, dass es vierzehn Grad Minus hat. Grusha stöhnt einmal. Der Hunger wütet in seinen Eingeweiden und auch der Wassermangel macht sich bemerkbar. Er schluckt. Was würde der Sportler jetzt für eine heiße Tasse Tee geben? Auch wenn die Sehnsucht groß ist, entscheidet er sich dafür eine Kappe voll des kalten Gletscherwassers zu trinken. Es tut weh. Sein gefolterter Magen rebelliert, indem er sich stark verkrampft und somit große Schmerzen hervorruft.

Grusha hält sich den Bauch und stöhnt laut. „...Verdammt..." Ein großer Bissen von dem Sandwich soll Abhilfe schaffen. Das überforderte Hohlorgan steigert die Temperatur und stürzt sich wie der Teufel auf die arme Seele auf den Nahrungsbrocken. Ein weiterer Bissen folgt, doch nun muss sich Grusha stark beherrschen. Endlich klart sein Verstand etwas auf. So gut es sein Feingefühl zulässt, richtet er den gebrochenen Knochen in eine natürliche Position zurück. Das Taschenmesser und die Geldbörse müssen an Speiche und Elle als Schiene dienen, während er das ganze mit mehreren Verbänden aus dem Erste-Hilfe-Set fixiert. Mehr kann er nicht für sie tun. Trotzdem untersucht Grusha ihren Körper, ob noch andere Verletzungen vorhanden sind. Zum großen Glück sind ihre Beine in Ordnung. Er kann zumindest keine Brüche oder Prellungen feststellen. Auch ihr Becken zeigt keine Auffälligkeiten. Wobei man das nur mit Gewissheit sagen kann, wenn sie endlich wieder zu sich kommt.

Grusha gähnt einmal. Er ist extrem erschöpft und muss sich dringend ausruhen. Doch in dieser Eiseskälte zu schlafen, ist viel zu gefährlich. Sie würden beide erfrieren und es wahrscheinlich nicht einmal merken. Trotzdem fällt es ihm immer schwerer die Augen offen zu halten. Grusha schluckt erneut. In diesem Fall wird er seinen Stolz herunterschlucken müssen. Um es zumindest einigermaßen bequem zu haben, legt er den Rucksack flach hin, um ihn als Kopfstütze zu benutzen. „...Tut mir Leid, Emilia...ich beeile mich auch..." Grusha fängt an der immer noch bewusstlosen Frau die Jacke zu öffnen. Er zieht sie ihr vorsichtig aus, um sie neben dem Rucksack als Unterlage zu verwenden. Danach öffnet er sofort seine eigene Jacke, um Emilia an sich zu pressen. Er muss sich auf den Rücken legen und sich wirklich anstrengen, um die nun vollere Jacke wieder mit dem Reißverschluss schließen zu können.

„...Okay..." Nur mit Mühe dreht er sich auf die Seite und winkelt ihre sowie seine eigenen Beine an. In der Embryonalstellung verliert der Körper nicht so schnell an Wärme, sondern kann sie länger zurückhalten. Auch seinen Schal löst er ein wenig, um diesen mit ihr teilen zu können. Zum Schluss, muss Grusha noch ihren gebrochenen Arm in eine streckende Position bringen. Dafür hat er ihren Arm durch seinen Jackenärmel geführt und ihr seine Fäustlinge angezogen. Danach schlingt er seine Arme um ihren Oberkörper, drückt sie fest an sich und hofft, dass er mit dieser Methode sie und sich selbst einige Zeit lang warm halten kann. Immerhin wärmen zwei aneinandergeschmiegte Körper besser als ein Kleidungsstück. Egal wie dick und wie warm es auch sein mag. „...Bitte...komm wieder zu dir..." Etwas anderes als warten kann er nicht tun.

Natürlich könnte er einfach gehen und sie ihrem Schicksal überlassen. Doch das würde sein ohnehin schon angeschlagenes Gewissen nicht zulassen. Grusha will nicht mit dem Wissen leben, dass man eines Tages die steif gefrorene Leiche eines jungen Mädchens finden wird. Zumindest in ihrer geistigen Abwesenheit, kann er einmal kurz aufhören den starken Mann zu spielen. Er schlüpft mit seinem rechten Arm aus seiner Jacke heraus, um die Temperatur und die Zeit zu überprüfen. Seine Pflegedienstleistung hat mehr Zeit gefressen, als gefühlt wirklich vergangen ist. Auch der Akku ist gewaltig abgesunken. Der rote Balken zeigt nur noch 12% Strom an. Die Powerbank muss schneller entladen gewesen sein, als ursprünglich angenommen. Das ist wahrscheinlich seine letzte Chance, also aktiviert er die Nachtsichtkamera, um ein Video von sich zu drehen.

„...Zu diesem Zeitpunkt ist es gerade 3:36Uhr. Ich bin mit Emilia im Montanata im Eis eingebrochen. Wir haben versucht einen Ausgang zu finden...ohne Erfolg..." Seine Stimme zittert, während er spricht. „Wir sind zusammen durch mehrere Eistunnel gelaufen und haben bald darauf einen Schlund nach unten gefunden. Dabei ist Emilia gestürzt und hat sich schwer verletzt. Ich konnte die Blutung an ihrem Kopf stoppen, doch uns läuft die Zeit davon. Wir haben nur noch kaltes Wasser und einen kleinen Rest zu essen. Hier unten herrschen aktuell Minus 16° Celsius. Ich weiß nicht, wie lange wir noch durchhalten werden. Bitte...helft uns...bevor wir erfrieren....leider habe ich keine Ahnung, wo wir sind. Emilia ist noch immer ohnmächtig und ich weiß nicht, wann sie aufwachen wird..." Dann speichert er das Video. Grusha tippt mit zitternden Fingern ein kurzes S.O.S ein, um dieses dann kurzerhand an die Bergwacht zu schicken. Alles was er jetzt noch tun kann ist beten und hoffen, dass die Nachricht ihren Weg durch das Gestein findet und den Empfänger erreicht.

Eine ganze Weile kämpft er noch gegen die Müdigkeit an. Doch er zögert nur das Unvermeidliche hinaus. Mit jeder Sekunde werden seine Augen kleiner. Die eisblaue Farbe dahinter verschwindet immer mehr, bis er schließlich den Kampf verloren hat. Sein Gehirn hat abgeschalten. Grusha hat aufgegeben. Er ist eingeschlafen, während er Emilia weiterhin fest umklammert hält.


Eiskalt erwischt (Abgebrochen)Where stories live. Discover now