15. Kapitel

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Als Lu nach Hause kommt, um ihren Bruder abzulösen, sieht sie ihn verwirrt über den Tresen gebeugt.

„Was ist los?", kam sie auf ihn zu und beugte sich ebenfalls über den Tresen. Darauf war, wie Lu feststellte, nur ein kleines Stoffsäckchen. Das Mädchen zog die Augenbraue hoch und sah ihren Bruder vielsagend an. „Du grübelst über ein kleines Stoffsäckchen? Dein Ernst?"

Aidan sah sich um, ob sie auch niemand sie belauschte. Allerdings war außer den Geschwistern keiner im Laden. Hier im Unteren Ring war ihr Laden sowieso nur wenig besucht und sie hatten Mühe, sich über Wasser zu halten.

Als er schließlich die Gegend abgecheckt hat zeigte er seiner Schwester schließlich, was ihm so ein Herzrasen beschert. Er öffnet das Stoffsäckchen, woraufhin die Münzen darin zum Vorschein kommen.

Lu stockte der Atem. „Das sind..."

Aidan nickte. „Richtig." Doch das war noch nicht alles. „Aber sieh dir mal das Tuch an!" Damit strich er die Münzen zur Seite, auf den Tresen, sodass man nun das gestickte sehen konnte, welches davor die Münzen verborgen hatten.

Lu stockte der Atem. „Das ist unmöglich!", flüsterte sie. Auf dem roten Tuch war eine Frau gestrickt, die von einem Drachen umschlungen wurde. Mit einem Mal hatte sie wieder die Fassung. „Wie lange ist sie schon weg?", forderte Lu zu wissen.

„Ihr habt euch genau verpasst! Sie hat vielleicht fünf Sekunden, bevor du gekommen bist den Laden verlassen."

Ohne weitere Umschweife rannte Lu hinaus. Vielleicht erwischte sie sie ja noch! Sie kletterte auf die Dächer um einen besseren Überblick zu haben. Jedoch war alles, was sie sah, das Gedränge der Passanten. 

_ _ _

Als die Nachmittagssonne ihren altbekannten Weg ging, betrat Lu den Park. Es war gar nicht so einfach für sie gewesen, hierher, in den Oberen Ring zu gelangen. Aber es war nichts, was sie hätte aufhalten können. Lu war jahrelang geübt darin, sich unbemerkt irgendwohin zu schleichen.

Lu sah sich um und scannte die Umgebung ab. Allerdings war es ruhig im Park. Für Lus Geschmack, zu ruhig. Es waren nicht viele Menschen hier. Ein alter Mann, der mit seinem Enkelsohn Enten fütterte, eine junge Frau, die auf einer Bank ein Buch las, ein Mann, der mit seinem Hund spielte und ein Mädchen, das in einer unbemerkten Ecke stand.

Achtsam, bereit für jeden Angriff, steuerte sie auf das Mädchen zu. Sie hatte schulterlanges, blondes Haar, wo einige kleine Zöpfe eingeflochten waren und trug eine Sonnenbrille. Lu verachtete sie.

„Was willst du?", fragte das Mädchen genervt. „Ein Jahr lang hört man keinen Ton von dir und plötzlich forderst du ein Treffen mit mir?" Lu konnte deutlich die Verachtung in ihrer Stimme hören.

Lu kam noch einen Schritt näher. „Damit das klar ist: Ich habe dich nicht hierherbestellt, weil ich dich so vermisst habe!"

„Komm zum Punkt!"

Mit einem genervten Stöhnen holte Lu das rote Stoffsäckchen hervor und warf es dem Mädchen zu, welche es ohne Probleme auffing.

„Was soll damit sein?", fragte sie. Nach Lus Aufforderung, öffnete sie es schließlich. Sie nahm das Geld in die Hand. „Bei Aleshia! Wo hast du das her? Du könntest-"

„Denkst du, das weiß ich nicht?", schnauzte Lu sie an. „Untersuche lieber mal das Tuch!"

Das Mädchen tat gesagtes und schnappte nach Luft. „Das ... Das ist unmöglich!", brachte sie schockiert hervor.

„Nein!" Lu spürte selbst, wie ihre Stimme bebte. Trotzdem sprach sie weiter. „Die Aelia lebt! Und nicht nur das. Sie ist sogar hier in Silvermont!" Lu hatte die ganze Zeit Emines verrückte Theorie für vollkommenen Unsinn gehalten. Sie war überzeugt davon, dass Emine es nur geschrieben hatte, um sie aus der Ruhe zu bringen. Aber nun, nach Aidans Schilderung, hegte sie keine Zweifel mehr daran. Emine lag richtig! Die Erkenntnis, das sie selbst Emine Recht gab, bescherte Lu eine Gänsehaut.

„Was sollten wir, deiner Meinung nach, tun?", fragte das Mädchen und riss Lu damit aus ihren Gedanken.

Diese seufzte. „Wie es aussieht, werde ich unsere Gruppe wieder zusammenrufen." Damit hatte Nian ihren Willen bekommen.

Das Mädchen nickte. Sie schnappte sich ihren Stab, der an einen Baum gelehnt war und klopfte mit ihm drei Mal auf den Boden. „Aber unser Versteck wurde enttarnt!", gab sie zu bedenken.

Lu nickte bestätigend. „Genau deshalb, habe ich auch für ein neues gesorgt!"

Das Mädchen wand sich zum gehen um. Doch Lu rief sie nochmal zurück.

„Und Silja?"

Das Mädchen, Silja blieb stehen.

„Lass das Säckchen mal von deiner Schwester überprüfen!", verordnete Lu.

Silja nickte und machte sich dann auf den Weg. Dabei rief sie noch „Almnaa!" Bis dann! Jedoch war ihr Tonfall nicht viel weniger verachtend, als zu Anfang.

Auch Lu konnte Silja nicht ausstehen. Allerdings brauchte sie das Mädchen für ihren Plan. Zudem ging es auch nicht immer darum, ob man die, die um einen herum sind, gernhat. Eigentlich verachtete Lu die meisten Menschen. Allerdings machte sie sich deren Stärken zum Vorteil. Und somit hatte sie die mächtigste Gruppe erschaffen, die es womöglich gab.

_ _ _

Am Abend, als Samira und Karina zusammen in ihrem Zimmer waren, hielt Karina es irgendwann nicht mehr aus.

„Du bist mir Antworten schuldig!", meinte sie.

„Aber die habe ich dir doch schon gestern gegeben."

Karina sah Samira nur an. „Ja, aber heute ist viel passiert!"

Samira jedoch ging darauf nicht weiter ein, sondern blätterte einfach auf die nächste Seite ihres Buches.

Doch Karina würde nicht so einfach nachgeben. „Erstens: Was hast du heute gemacht, als du dich weggeschlichen hast? Was war da so wichtig? Zweitens: Warum möchtest du deine Identität verschleiern? Warum lügst du die Wachleute andauernd an? Trägst du deshalb auch die Kontaktlinsen? Damit dich niemand erkennt?"

Nun schaute Samira doch von ihrem Buch auf.

„Ja, glaub nicht, dass ich das nicht mitbekommen habe!", meinte Karina. „Oder machst du deshalb auch nie deinen Zopf auf? Weil dich so jemand erkennen könnte?"

Seufzend klappte Samira nun ihr Buch zu und legte es beiseite. „Nun, es könnte womöglich sein, dass man ... mich hier sucht."

„Also bist du eine Kriminelle?", fragte Karina schockiert. Zwar hatte sie damit schon ein wenig gerechnet, aber es nochmal bestätigt zu bekommen, ist etwas anderes. War sie etwa die ganze Zeit mit einer Kriminellen befreundet?

„Ich bin keine Kriminelle!", stellte Samira klar. „Aber vielleicht ist meine Familie nicht ganz so freiwillig, wie ich behauptet habe, umgezogen."

„Ihr seid geflüchtet.", erkannte Karina.

„Jaaa, so ungefähr." Nun sah Samira ihrer Freundin direkt in die Augen, da ihr der nächste Satz wirklich wichtig war. „Hör mir zu, Karina. Weder ich, noch meine Familie, haben nichts falsches getan!"

„Und warum ist das Gesetz dann hinter euch her?"

„Weil..." Samira biss sich überlegend auf die Unterlippe. Doch schließlich entschied sie sich schlichtweg einfach für die Wahrheit. „Weil jemand der Meinung ist, dass ich niemals hätte existieren sollen."

Karina wurde hellhörig. „Und wer?"

„Niemanden, den du kennst." Damit war für Samira das Thema abgeschlossen. „Weißt du, welcher Programmpunkt für morgen anliegt? Wurde das vorhin gesagt, als ich weg war?"

Karina nickte mit leuchtenden Augen. „Du wirst es kaum glauben! Aber morgen werden wir tatsächlich der Kaiserin vorgestellt!"

Samira verlor alle Farbe im Gesicht. Hätte sie doch bloß nicht gefragt! Wie konnte sie auch nur annehmen, dass irgendein Tag dieser Reise mal stressfrei und ohne Panikattacke ablaufen konnte? Aber so verlangte es die Tradition: Die Klasse aus Patia, die zehn Tage in Silvermont verbringen darf, wird an einem Tag dem Kaiser, oder der Kaiserin vorgestellt.

Samira hoffte nur, dass ihre Tarnung ausreichte. Denn wenn nicht, würde der morgige Tag ein schlimmes Ende finden. Und das nicht nur für sie. 

Hinter der GrenzeWhere stories live. Discover now