Gemeinsamkeit

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"Ich denke, ihr solltet euch mit ihm treffen." Tia schob sich ihre Sonnenbrille zurück auf die Nase, nachdem sie ihnen einen ernsten Blick zugeworfen hatte. Sie saßen in ihrem Garten zusammen und beratschlagten sich, wie sie mit diesem Angebot umgehen sollten. Kaoki gab Tia eigentlich uneingeschränkt Recht. Insbesondere nach dem, was jenen Abend passiert war. Wenn Etsu nun schon auf sie zukam, sollten sie die Chance nutzen um alles zu bereinigen, was zwischen ihnen stand. Wozu sollten sie daran festhalten? Es brachte niemandem etwas außer Kummer, Stress und Sorgen.

"Du solltest dich auch bei ihm entschuldigen, Neo." Tia schürzte die Lippen.

"Ich denke eher, wir sind quitt."

Die Schnute, die sein Bruder zog, war ein herrlicher Anblick. Kaoki konnte nicht an sich halten und prustete los, hielt sich den Bauch, deutete aber gleichzeitig mit ausgestrecktem Finger auf seinen Bruder. Doch Neo reagierte prompt, griff sich genau jenen Finger und drängte ihn zurück. Nicht zu fest, dass er ihn ernsthaft verletzten könnte, aber fest genug, dass er seinen Standpunkt klar machte.

"Hör auf!", forderte Neo ein. "Wenn du unbedingt darauf bestehst, entschuldige ich mich halt."

Kaoki fing sich wieder. "Heißt das, wir gehen?"

"Wir gehen."



Und sie gingen zum Treffpunkt, den Etsu vorgeschlagen hatte und entdeckten den jungen Springer auf dem fast kugelrunden Felsen sitzen, der eine der Besonderheiten ihres geliebten Strandes war. Für gewöhnlich war er ein beliebtes Fotomotiv, doch heute war kaum jemand unterwegs.

"Etsu!" Kaoki winkte, als der Jüngere sich umdrehte und zu ihnen hinuntersah.

"Ich dachte ihr würdet nicht kommen..."

"Dir auch hallo", brummte Neo und steckte die Hände in die Taschen seiner Shorts.

Etsu lächelte unsicher, als er mit einem Satz von dem Felsen sprang und sich dann daran anlehnte.

"Ja, tut mir Leid, ich hatte noch etwas gesucht und dann war die Zeit schon knapp." Verlegen lachend kratzte sich Kao am Hinterkopf, als er Etsus Blick begegnete. "Neo wollte dir direkt etwas sagen. Nicht wahr, Bruder?"

Meneo rümpfte die Nase. Ihm ging es sichtlich unwohl mit seiner Aufgabe. "Sorry wegen deiner Nase." Doch er brachte es hinter sich, wie ein echter Held. Kaoki grinste breit. Die erste Hürde war genommen.

Eine wegwerfende Handbewegung war Etsus Antwort auf diese Entschuldigung. "Schon gut. Ein schlechter Sprung schmerzt mehr."

"Hast du mich gerade -" Neo atmete durch und rief sich selbst zur Ruhe. Er setzte ein künstliches Lächeln auf, was ihm keiner abkaufen würde. "Da bin ich aber froh."

Kaoki und Etsu sahen erneut einander an und unterdrückten jeweils ein keimendes Grinsen.

Eine Bewegung in ihren Augenwinkeln weckte ihre Aufmerksamkeit. Über dem Beachclub wurden in diesem Augenblick unzählige weiße Luftballons losgelassen, die gemächlich gen Himmel stiegen. Ein schöner Anblick, der Kaoki in seinem Vorhaben bekräftigte, erinnerten ihn die Ballons doch an zahlreiche Perlen. Lächelnd trat er an Etsu heran. "Gib mir deine Hand."

"Was?"

"Deine Hand."

Zögernd reichte Etsu ihm seine Hand dar. Kaoki hatte in der Zwischenzeit etwas aus seiner Hosentasche gefischt und legte es nun vorsichtig um Etsus schmales Handgelenk. "Unser Großvater war noch einer der letzten Perlentaucher, die hier arbeiteten. Die stammen aus seiner letzten Suche", erklärte er. Meneo war dagegen gewesen, doch er hatte sich durchgesetzt. Es war eines der Armbänder, wie auch Brynn, Neo und er sie trugen. Die Perle schimmerte glänzend im Licht der Sonne.

"Das kann ich nicht annehmen!" Etsu schüttelte den Kopf. "Die sind doch bestimmt ultra wertvoll."

"Aber du brauchst es. Opa sagt, die Perlen bringen Glück im Wasser. Mich hat sie vorm Ertrinken geschützt und Neo vor einer Gehirnerschütterung, als er sich sein Brett auf den Kopf gehauen hat." Kaoki lachte heiter auf.

"Das hab ich bestimmt nicht mit Absicht gemacht", murrte sein Zwilling und musterte das Armband, welches nun an Etsus Handgelenk ruhte irgendwie ein wenig wehleidig.

"Außerdem", fuhr Kao fort und ignorierte den Einwand seines Bruders. "Wenn ich schon dafür gesorgt hab, dass du bei dem Unfall heilgeblieben bist, dann tut der Glücksbringer seine Arbeit bei deinen Sprüngen."

Etsu sah auf das Armband hinab, tastete nach der Perle mit der freien Hand. Er schien aufrichtig berührt von dieser Geste, war es wohl etwas, womit er absolut nicht gerechnet hatte. Verständlich. Kaoki lächelte in sich hinein. Etsu hatte die Chance seinen Traum zu leben, genauso wie Brynn. Er war niemand, der das irgendjemandem nehmen wollte, nur weil sein Traum für immer ein Traum bleiben würde.

"Übrigens Glückwunsch zum Vizemeister." Er ahnte, dass es besser war das Thema zu wechseln. "Aber woran hatte es gelegen?"

"Er war halt einfach besser als ich." Die Erwiderung kam schnell, zu schnell, als dass sie ehrlich war. Sie alle drei wussten, dass gegenwärtig niemand besser war als Etsu. Keiner der angemeldeten Springer hätte den jungen Mann übertrumpfen sollen.

"Unsinn. Du kamst zu schnell aus dem Salto und hast daher in der Schraube überdreht. Warum? Das war ein Standardsprung."

"Ich war nicht vorbereitet. Kurz vorher habe ich noch die Anfrage gestellt die Sprungabfolge zu ändern und sie wurde bewilligt. Eigentlich wollte ich aus dem Handstand starten und dann in den zweifachen, gestreckten..." Etsu schüttelte den Kopf. "Aber das war dein letzter Sprung."

"Es gibt keinen ‚dein Sprung' oder ‚mein Sprung'. Dir stehen alle Elemente frei." War das Ärger, den er da aus seiner eigenen Stimme heraushören konnte? Ja. Er war zornig auf den Jüngeren. Welche Dummheit er damit begangen hatte... das war Selbstsabotage.

"Ich hab zu viel nachgedacht", gab Etsu dann leise zu.

"Allerdings", bestätigten Meneo und Kaoki wie aus einem Munde.

Der Jüngere schluckte schwer, hatte mittlerweile die gesamte Hand über das Armband an seinem anderen Handgelenk gestülpt, als würde er sich daran festhalten wollen. "Ich hab dich immer bewundert, zu dir aufgesehen, Kaoki." Es klang wie ein Geständnis, welches er schon viel zu lange mit sich trug und das nun endlich laut ausgesprochen werden durfte.

Ein Geständnis, welches ihn ehrlich bewegte. Diese Bewunderung hatte er nie erkannt. Kaoki hatte darin kein Nacheifern, kein Bestreben gesehen, sondern eine Herausforderung, eine Bedrohung. "Obwohl du der Bessere bist?" Er war froh, dass sein Bruder sich aktuell im Hintergrund hielt.

"Du bist älter, hast mehr Erfahrung."

"Du hast doch früher angefangen."

"Du hattest immer mehr Kontrolle."

"Deine Form ist durchgehend perfekt." Eine Mischung aus ihnen beiden wäre wohl der perfekte Springer gewesen. Kaoki zeigte ein aufrichtiges Lächeln.

Es war Etsu, der ihren Schlagabtausch unterbrach. "Ich habe dir nie danken können."

Nun waren sie dort angelangt, wo sie sein sollten. Jetzt war der Zeitpunkt, in dem Dinge ausgesprochen werden mussten, die sie all die Jahre mit sich getragen hatten. "Du brauchst dich nicht zu bedanken. Es war das einzige, woran ich in dem Moment hatte denken können, also insofern habe ich mich nicht einmal bewusst dafür entschieden. Es war Instinkt... Es ist auch keine Entschuldigung nötig, falls du das denkst."

In Etsus grauen Augen stand plötzlich eine Verletzlichkeit, die ihn kalt erwischte. Der Jüngere hatte ebenso gelitten, nicht wahr? Es verband sie. So wie auch Neo die Spuren dieser Tragödie in sich trug, war auch Etsu betroffen. "Ich habe so viel von dir lernen können und nun bist du meine größte Inspiration, Kaoki."

Es waren simple Worte, die dennoch einen Stolz in ihm weckten, wie er ihn lange nicht mehr verspürt hatte. "Versprich mir einen Wunsch zu erfüllen", bat Kao.

"Jeden, der mir möglich ist."

"Das nächste Mal springst du aus dem Handstand."

Burning Oaths at the Beach of PearlsWhere stories live. Discover now