Unfall

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Seine Reaktionszeit war schon immer bezeichnend gewesen. Genauso seine Anpassungsfähigkeit. War das der Grund, dass sein Körper reagierte, ehe sein Verstand bemerkte, was tatsächlich im Inbegriff war zu geschehen? Es spielte schließlich keine Rolle mehr. Kaoki stieß Etsu mit aller Kraft von sich. Er geriet ins Straucheln und verlor sein Gleichgewicht, doch noch im Sturz erfasste ihn der Bus.

Oder doch nicht? Kaoki befand sich mitten auf der Straße und beobachtete ein merkwürdiges Phänomen. Die Zeit verlief wie in Slowmotion. Doch dann erkannte er, dass er fiel, der Boden war unter seinen Füßen fortgerissen worden, er war im Inbegriff auf dem Asphalt aufzuschlagen. Der Bus hatte ihn sehr wohl erwischt. Anstatt Panik überkam ihn eine tiefe Ruhe. Erst jetzt bemerkte er das Unheimlichste an dieser obskuren Situation...

Die Stille.

Kaoki schloss die Augen – und war nicht mehr fähig dazu sie erneut zu öffnen.



"Ki... Kaoki? Kiki!" Neo. Es war die Stimme seines Bruders.

Er konnte nicht antworten. Sein Hals war ihm wie zugeschnürt. Ihm war kalt, so kalt. Sein Körper fühlte sich aber merkwürdig leicht an. Die Zerrung in seiner Wade schien verschwunden zu sein. Was war passiert?

Plötzlich kam die Erkenntnis und mit ihr der Schmerz. Brennend, beißend, stechend. Überall. Kaoki wollte die Augen öffnen, doch alles was er sah, waren bunte, verschwommene Lichtflecken umhüllt von einem roten Nebel, der seine Sicht trübte. Geräusche drangen auf ihn ein, nicht zuzuordnen. Undefinierbar. Viel zu laut. Er wollte in die Stille zurück! Dorthin, wo er nicht diese bestialischen Schmerzen gehabt hatte!

Meneo. Er war hier irgendwo.

Der Bus. Dieser Bus.

Und Etsu?



Schädel angebrochen, Schulter ausgekugelt, sein Oberarm zweifach gebrochen, der Unterarm zertrümmert, die Rippen zerschmettert. Seine Hüfte gespalten, mehrere Risse im Oberschenkelknochen, sein Knie fast zerfetzt. Dass man seinen Unterschenkel hatte retten können, bezeichneten sie als Glück, dass seine Wirbelsäule nur geprellt und nicht gebrochen war, glich einem Wunder. Keine schwerwiegenden inneren Verletzungen hatte er seinem Schutzengel zu verdanken.

Mittlerweile standen seine Chancen zu überleben bei vollen hundert Prozent, daher hatte man ihn geweckt. Das hatte vor vier Wochen ganz anders ausgesehen. So lange war es her, seit man ihn ins künstliche Koma versetzt hatte. Nach dem Unfall.

Er würde laufen können. Nur er würde nie wieder springen können... Seine Chancen zu seiner Leidenschaft, dem Klippenspringen, zurückzukehren, lagen bei Null Komma Null.



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"Ich leugne nicht, dass mein erster Gedanke gewesen ist, warum bin ich dann noch hier?" Er seufzte auf. „Mein halber Körper war eingegipst, ich war kaum zurechnungsfähig wegen der ganzen Schmerzmittel und für fast zwei Wochen gelähmt ans Bett gefesselt, ehe man mich das erste Mal in einem Rollstuhl platziert hatte." Kaoki war sich bewusst, dass es seine Geschichte war, die er erzählte und dennoch fühlte sich diese Erfahrung gerade unglaublich fremd an.

"Ich wusste, dass du einen Unfall gehabt hattest und verletzt warst. Aber auch nur durch Social Media. Ich dachte... Ein gebrochenes Bein... nichts so schwerwiegendes. Du lagst im Koma?"

"Ja."

"Es tut mir Leid. Ich hätte mich nach dir erkundigen müssen, es hätte mehr geben müssen als gute Besserungswünsche meinerseits. Es tut mir so Leid." Brynns Entschuldigung war aufrichtig, das konnte er erkennen. "Ich wusste, dass du pausieren würdest um dich auszukurieren und hatte gedacht... das Letzte, was du jetzt noch gebrauchen könntest, ist dein dämlicher Ex-Freund, der dich zuvor nach einem gemeinsamen Weihnachten erneut hat sitzen lassen."

"Ja, diese Feiertage waren ein Fehler gewesen." Das Weihnachtsfest nach ihrer Trennung war Brynn in die Heimat gekommen um mit Freunden und Familie zu feiern. In der Zeit zwischen den Jahren hatten sie miteinander geschlafen. Mehrfach. Ganz so, als hätten sie ihre Beziehung zueinander nie für beendet erklärt. Doch der Abschied hatte bevorgestanden und die Schmerzen Brynn ziehen zu lassen, waren danach noch schlimmer gewesen als zuvor... er hatte sich selbst vor Augen geführt, was er hätte haben können.

Mit einem traurigen Lächeln im Gesicht sah Kaoki seinen Ex-Freund an. In Brynns Blick lag kein Mitgefühl, sondern Sorge. Ein Ausdruck, den Kao mittlerweile genauso wenig sehen wollte. "Darf ich...", begann Brynn leise und neigte seinen Oberkörper kaum merklich in seine Richtung. "Dich in den Arm nehmen?"

Kaoki drehte den Kopf in Richtung Meer, welches von hier aus nur als ein schmaler Streifen am Horizont zu erkennen war. Er ließ sich Zeit mit einer Antwort – und schüttelte dann den Kopf. "Keine gute Idee, Brynn. Ich tu mir schon selbst keinen Gefallen damit hier neben dir zu sitzen." Kaos Lächeln erstarb. "Es ist anstrengend mich gegen die Gefühle für dich zu wehren."

Brynn räusperte sich. "Warum wehren...?" Er klang verwirrt.

"Du weißt es doch. Warum willst du es noch von mir hören?" Sein Tonfall war schärfer geworden, es schwangen Vorwürfe mit. "Ich liebe dich, Brynn. Ich hab dich immer geliebt. Und einerseits war ich unglaublich froh, dass du mich nicht hast sehen müssen während der Zeit nach dem Unfall... andererseits habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht als dich bei mir zu haben." Jetzt war es raus.

Und es tat gut. 

Burning Oaths at the Beach of Pearlsحيث تعيش القصص. اكتشف الآن