Verantwortung

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Meneo trat unruhig von einem Bein auf das andere. Seit Brynn und Kao sich zurückgezogen hatten um miteinander zu sprechen, war eine Gehirnhälfte stets darauf vorbereitet seinem Bruder zur Seite zu eilen, wenn er gebraucht wurde. Nur halbherzig konzentrierte sich Neo auf die Gespräche, die er führte.

Er stand beisammen mit Kaos ehemaligem Coach und einem weiteren Springer, mit welchem sein Bruder damals oft trainiert hatte. "Etsu!" Der Name, den der Coach gerade rief, war ausreichend um Neos Blut in seinen Adern gefrieren zu lassen. "Etsu, komm mal her!" Der Mann winkte den jungen Favoriten der Meisterschaft heran. Es war der Titel, die Hoffnung, die Kaoki eigentlich tragen sollte, nicht dieses Möchtegernwunderkind, das niemand sonderlich gut leiden mochte. Wenn er von Anschlussproblemen sprechen würde, war das noch bei weitem untertrieben. Niemand wollte etwas mit diesem arroganten Balg zu tun haben.

"Ich gehe -", setzte er an und war bereits im Begriff sich aufzumachen, da hielt ihn eine Hand an der Schulter auf.

"Du stellst dich dem. Verstanden?" Kaos Coach sah ihn eindringlich an. Er wusste um den Hass, den Neo gegenüber Etsu hegte. Auch nach dem Unfall war der Mann seinem Zwilling eine Stütze gewesen, ein Mentor. Ihre Beziehung war zwar nicht mehr so eng, wie noch in der Zeit als Kao aktiv im Klippenspringen gewesen war, dennoch herrschte zwischen den beiden Vertrauen und nur daher, allein aus diesem Grund, ließ sich Meneo jetzt auf diese Situation ein.

"Guten Abend", grüßte Etsu in die Runde, als er bei ihnen angelangt war. Warum stand der Kerl jetzt auch noch ausgerechnet direkt neben ihm? Mit seinen 21 Jahren war er jünger, aber deutlich größer als Neo. Die aschblonden Haare trug er zu einem kurzen, hohen Pferdeschwanz zusammengebunden, die Seiten ausrasiert. Die grauen Augen bohrten sich stets in alles, was er ansah. Etsu war einfach ein unangenehmer Zeitgenosse. Unterbewusst trat Neo einen halben Schritt auf Abstand und rümpfte angewidert die Nase.

"Etsu, ich weiß bis heute nicht, warum du dich gegen mich entschieden hast als Trainer, aber ich respektiere die Entscheidung. Meine Jungs werden dir am Wochenende aber zeigen, was dir entgangen ist." Der Coach lächelte breit, als er zu plaudern begann und Neo nur genervt die Augen verdrehte. Kaoki hätte es ihm zeigen sollen. Kaoki hätte diesem Emporkömmling den Titel vor der Nase wegschnappen sollen, sein Bruder hätte -

"Sie hatten damals Kaoki unter ihren Fittichen und ich wollte -"

"Nimm seinen Namen nicht in den Mund", presste er hervor und ballte die Hände zu Fäusten, als er gen Boden blickte.

Stille. Angespanntes Schweigen legte sich über die Gruppe. Neo spürte wie ihm warm wurde, ein einzelner Schweißtropfen bildete sich in seinem Nacken und löste sich gerade, glitt seine Wirbel hinab. Ein widerliches Gefühl in einer Situation wie dieser. Der Coach schickte seinen Schüler unauffällig fort, ahnte wohl, dass dies eine Angelegenheit werden würde, die nur sie beide klären konnten, aber bei der es wohl nötig sein würde eine Aufsichtsperson parat zu haben.

Nun war es soweit. Etsu legte seine forschen Augen auf ihn. Nur auf ihn. "Ich weiß, dass du mich verantwortlich ma-"

"Du bist verantwortlich." Neo begegnete Etsus Blick und hielt ihm stand. Ihm erschien es so, als hätte er Jahre darauf auf diesen Moment gewartet. "Er hat Platten und Schrauben in seinen Knochen, die er nie wieder loswerden wird! Und das ist, verdammt noch mal, deine Sch-"

"Schluss." Der Coach war einen Schritt näher an sie herangetreten.

"Ich hatte nie eine Gelegenheit mit ihm darüber zu reden!", protestierte Etsu nun und in dessen Gesicht stand wahrhaftige Reue, die Neo kurzzeitig aus dem Konzept brachte.

"Denkst du, ich lass dich noch einmal mit ihm alleine? Als ihr das eine Mal etwas miteinander klären wolltet, ist mein Bruder fast gestorben, weil er dein Leben gerettet hat!" Er war lauter geworden, Umstehende hatten sich mittlerweile zu ihnen gedreht und beobachteten die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte, tuschelten leise.

"Denkst du etwa, meinem Gewissen geht es gut damit?!" Nun war es Etsu, der die Stimme erhoben hatte. Sie waren einen Schritt aufeinander zugetreten, blickten einander an wie Hunde, die jeden Augenblick drohten aufeinander loszugehen.

"Du hast keine Ahnung, was er durchmacht!"

"Weil mich niemand teilhaben lässt!"

Irgendwo in seinem Kopf sprang eine Sicherung heraus, die bereits gefährlich gezittert hatte. Meneo hatte mit der Faust ausgeholt und traf Etsu direkt im Gesicht. Der Jüngere schnappte nach Luft, krümmte sich leicht, als er zurücktaumelte. Neo setzte nach, griff sich Etsus Shirt, zerrte daran - dann spürte er, wie man an ihm zerrte, ihn bei den Schultern packte und von dem anderen fortzog. Man redete auf ihn ein, schimpfte mit ihm, aber all das drang nicht bis in seinen Verstand vor. Er sah nur Etsu, der sich die aufgeplatzte Lippe hielt, der aber eigentlich am Boden liegen sollte, wo er auf ihn einprügeln konnte, wie dieser Bastard es verdient hatte.

"Was maßt du dir an, du elendiger -?!"

"Es reicht!" Man zog ihn endgültig weg, Etsu geriet aus seinem Blickfeld, was vielleicht auch besser war angesichts dessen, dass sein Blut noch immer kochte und er die Hitze in seinem gesamten Körper spürte. Dieser Knoten aus Wut und Hass, der sich in seinem Magen gebildet hatte, wog schwer, bereitete ihm Übelkeit. "Was machst du denn?" Kaos ehemaliger Coach sah ihn enttäuscht an und ließ ihn erst los, als er genügend Abstand zwischen Etsu und ihn gebracht hatte.

Um den Springer schienen sich andere gerade zu kümmern, doch da er aufrecht stand, wusste Neo, dass er ihn nicht fest genug getroffen hatte. "Junge..." Der Coach seufzte auf. „Denkst du wirklich er trägt die Schuld an dem, was passiert ist?" Meneos Blick huschte über die Menge. Kao schien noch nicht wieder aufgetaucht... gut. Die Frage des Mannes ignorierte er. "Du frisst es seit Jahren in dich hinein, nicht wahr? Du bist nicht wütend auf Etsu. Du bist wütend auf dich selbst, dass du nichts unternehmen konntest, als es passiert ist."

Mit geöffnetem Mund starrte er den Mann an, in den sein Zwillingsbruder so viele Jahre tiefstes Vertrauen gesetzt hatte. Vertrauen, welches auf Gegenseitigkeit beruht hatte... kein Wunder also, dass dieser Mann auch ihn durchschaute, nicht wahr? Schließlich waren Kao und er eineiige Zwillinge. Fühlte er sich ertappt? Nein. Im Gegenteil... Erleichterung erfasste ihn. Jemand verstand ihn... jemand begriff, was in ihm vor sich ging. Er hatte sich nicht einmal gewagt sich seinen eigenen Eltern anzuvertrauen, zu welchen er eigentlich ein enges Verhältnis pflegte. Kao war in den letzten Jahren wichtiger gewesen. Sein Bruder hatte die Therapiesitzungen absolviert, hatte die Gespräche geführt, ihm war die Unterstützung geboten worden.

Ihn hatte man vergessen... Neo hatte sich selbst vergessen. All das hätte er genauso nötig gehabt. Die Erkenntnis war alles andere als neu. Die Scheu es zuzugeben hatte sich jedoch soeben in Luft aufgelöst. Meneo hatte stets die Hoffnung gehabt, dass wenn es seinem Bruder wieder besser gehen würde, dass es auch ihm gut ging. Sie waren doch Zwillinge... sie waren zwei Teile einer Seele.

Burning Oaths at the Beach of PearlsWhere stories live. Discover now