56 // ich will keine lüge mehr leben

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"Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil", ertönt die tiefe Stimme des vorsitzenden Richters. Seine grauen Haare sind kraus, seine dunkelblauen Augen unergründlich.

Der ganze Saal steht aus Respekt wie zuvor gefordert für die Urteilsverkündung vor den Stühlen. Shalik steht in einem schwarzen Hemd auf der Anklagebank neben Omar, seinem Anwalt. Etwas versetzt dazu steht Dion, der ebenfalls einen Strafverteidiger in schwarzer Robe neben sich hat.

Die Verhandlung ging ganze sechs Stunden. Shalik wurde angehört, Dion wurde angehört und auch der Geschädigte hat seine Aussage vor Gericht gemacht.

Ich habe mich die ganze Zeit über unwohl und wahnsinnig fehl am Platz gefühlt, wie ich hier saß, in meinem langen Wollmantel mit Hahnentrittmuster, die Haare streng zu einem Dutt gebunden.

Es ist die erste Gerichtsverhandlung gewesen, die ich mir angeschaut habe. In seinem Eröffnungsplädoyer hat der zuständige Staatsanwalt deutlich klar gemacht, dass er Shalik und Dion beide zu gleichen Teilen für schuldig hält, letzterem jedoch hoch anrechnet, dass dieser die Tat gestanden und sich zuvor bei der Polizei redselig gegeben hat.

Denn natürlich hatte Ziyad Recht, was auch mir von Anfang klar war: Dion hat gegen Shalik ausgesagt und ihn in die Pfanne gehauen, um seinen eigenen Arsch zu retten.

Der gutaussehende Libanese steht an meiner Seite und reibt nervös seine Hände. Heute morgen hat er mich pünktlichst abgeholt in seinem schwarzen Rollkragenpullover und der grau-weiß karierten Stoffhose. Als zum ersten Mal eindeutig ausgesagt wurde, dass Dion bei der Polizei gesungen hat wie im Kirchenchor, hat Ziyad verächtlich geschnaubt und erst mir einen eindeutigen Blick geschenkt, bevor er zu Shalik geschaut hat und ihm mit einer Geste symbolisiert hat: "Siehst du, habe ich es dir doch gesagt."

Eine Welle der Überraschung, ja fast schon Empörung löste dann die Aussage des Geschädigten aus, der ganz klar Dion als Täter identifizierte, sich jedoch an Shalik plötzlich nicht mehr erinnern konnte - oder wollte.

"Herr Steinkamp, ich muss Sie darüber aufklären, dass Sie nach § 52,53,53a und § 55 der Strafprozeßordnung von Ihrem Zeugnis- und Ihrem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machen können. Das bedeutet, dass Sie keine Angaben zur Sache machen müssen, wenn Sie mit dem Betroffenen verwandt oder verschwägert sind. Weiterhin können Sie die Antwort auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung Sie selbst oder einen nahen Angehörigen in die Gefahr bringen würde, wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden. Wenn Sie jedoch Angaben zur Sache machen können und wollen, sind sie nach § 57 der StPO angehalten, die Wahrheit zu sagen, andernfalls könnten Sie sich gegebenfalls der Falschaussage oder der Strafvereitelung strafbar machen." Der Richter hat diesen Monolog herunter gerattert wie auswendig gelernt, tief Luft geholt und eine bedeutungsschwangere Pause eingelegt. Dann hat er das Opfer über den silbernen Rand seiner runden Brille hinweg direkt angesehen.

"Ich muss Sie also noch einmal fragen: sind Sie sich sicher, dass der Angeklagte Herr Bouaziz nicht an dieser Tat beteiligt war, entgegen der Aussage von Herrn Zenelaj?"

Es war so still im Gerichtssaal, dass man eine Büroklammer runterfallen gehört hätte.

"Ich bin mir sehr sicher, Herr Vorsitzender. Der junge Mann mit dem schwarzen Hemd ist mir zuvor noch nie begegnet", antwortete der Mitte 40-Jährige souverän.

Erschreckend. Er konnte lügen ohne rot zu werden.

Der Richter räuspert sich und gewinnt damit meine volle Aufmerksamkeit zurück.

"Der Angeklagte Herr Dion Zenelaj wird wegen Betrugs und Handel mit illegalen Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt. Dem Angeklagten wird strafmildernd ausgelegt, dass er in erheblichem Maße zur Aufklärung des Sachverhaltes beigetragen hat. Die Strafe wird nicht zur Bewährung ausgesetzt. Ein Haftbefehl wird Ihnen zeitnah per Post zugestellt."

Ungläubig starrt Dion ins Leere. Der sonst so großkotzige Mann ist plötzlich ganz kleinlaut. Seine braunen Augen glänzen verräterisch und er hält sich schockiert eine Hand vor den Mund, während sein Anwalt ihm aufgebracht etwas ins Ohr flüstert.

Auch wenn er jetzt aussieht wie ein Häufchen Elend habe ich kein Mitleid mit ihm. Zu oft ist er mit einem blauen Auge davon gekommen und ich gönne ihm, dass er nun endlich mal Konsequenzen für sein Handeln tragen muss.

"Der Angeklagte Herr Shalik Bouaziz..", fährt der Richter fort. Meine Finger beginnen zu kribbeln und Ziyad neben mir versteift sich deutlich.

Ich kann nicht einschätzen, wie das Gericht in Shaliks Fall entscheiden wird. Ihm zugute stehen sowohl die Aussage des Geschädigten als auch, dass es keine Beweise gibt, die für seine Beteiligung an dem Betrug sprechen. Dagegen spricht die Aussage von Dion, der ihn ganz klar als Mittäter bezichtigt hat und seine beträchtlichen Vorstrafen.

".. wird freigesprochen."

Ein Raunen geht durch die Menge und auf Shaliks Gesicht schleicht sich ein breites Grinsen.

Nun wendet er sich direkt an Shalik. "Ich hoffe Sie wissen, dass Ihnen die Unschuldsvermutung zugute kommt. In dubio pro reo. Als Richter mit Jahrzehntelanger Erfahrung bin ich mir sicher, dass wir heute zwei Täter auf der Anklagebank hatten, doch die Beweise reichen nicht aus, um Sie zu verurteilen."

Mein Herz rast und meine Hände werden feucht.

"Ich bin ehrlich zu Ihnen. Nach Ihrem eindrucksvollen Strafregister bin ich mir sicher, dass wir Sie heute nicht zum letzten Mal auf der Anklagebank sehen und beim nächsten Mal werden Sie nicht mehr so viel Glück haben."

Mir wird so schlecht, dass ich Angst habe, mich gleich übergeben zu müssen.

Die Worte des vorsitzenden Richters gehen mir durch Mark und Bein.

"Herr Shalik Bouaziz ist mit sofortiger Wirkung aus der Untersuchungshaft zu entlassen."

Shalik schlägt seine Hände zusammen und schenkt Omar ein dankbares Nicken.

"Hiermit erkläre ich die Sitzung für beendet."

Dann räumen der Staatsanwalt und der Richter ihre Sachen zusammen und verschwinden durch eine Hintertür aus dem Gerichtssaal.

Dion bleibt beschämt sitzen, während Shalik aufsteht und provokant auf ihn zuläuft. "Du kleine Ratte, du kleiner 31er. Du wolltest mich ficken, aber hast dich nur selber gefickt. Karma, Bruder", knurrt er abfällig.

Dion reagiert nicht.

Dann läuft Shalik auf einen der Justizvollzugsbeamten zu und lässt sich von ihm die Handschellen abnehmen.

Erst jetzt sucht er meinen Blick. Er strahlt mich an, triumphierend, voller Erleichterung, doch ich kann seine Freude nicht teilen. Ich erwidere seinen Blick kurz starr, dann wende ich meine Augen von ihm ab und informiere Ziyad: "Ich muss hier raus, mir ist schlecht."

So schnell mich meine Beine tragen stürme ich aus dem Gericht, ohne mich noch einmal umzusehen und komme erst an einer kleinen Mauer vor dem Gebäude zum Stehen.

Ich versuche mich zusammen zu reißen, nicht zu heulen und gleichmäßig zu atmen.

Ich fühle mich nicht mal erleichtert über Shaliks Freispruch, ich bin einfach nur überwältigt von all diesen Eindrücken und Emotionen, die zeitgleich auf mich angeprasselt sind.

Ich schiebe mir die Hände schutzsuchend vor das Gesicht.

Ich habe gehofft, der Alptraum ist mir der Verhandlung vorbei, doch langsam wird mir klar, dass ich mich lediglich in eine Illusion reingesteigert hab.

Ich habe mich selbst belogen, wochenlang.

"Alles wird gut" war nur eine Lüge.

Und ich will keine Lüge mehr leben.

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Meine Lieben,

Was sagt ihr zu Dion, der ernsthaft seinen langjährigen Freund verraten hat?

Und was sagt ihr zu den Aussagen des Richters?

Könnt ihr Tiaras emotionale Reaktion verstehen?

A.


NOT YOUR BONNIEWhere stories live. Discover now