Sie drückte ihm ein Glas Wasser in die Hand, dann strich sie vorsichtig mit einem Tuch über sein Gesicht. Es fühlte sich an, als würde sie Tränen wegwischen, aber er konnte sich nicht erinnern, geweint zu haben. Oder vielleicht hatte er die ganze Zeit geweint und es einfach nicht gemerkt. 

Das Wasser klärte seine Sinne ein wenig, sodass sich sein Blick irgendwann wieder fokussierte. Edyta sah ihn immer noch besorgt an, er sah sich um, versuchte, irgendwo eine Uhr zu finden. Es war schon nach 16:00 Uhr, er hatte nicht mehr viel Zeit. 

"Wie geht es dir?", fragte sie. Er sah zu ihr hoch und ballte seine zittrige Hand zu einer Faust. 

"Nicht gut", gestand er leise. "Ich glaube, ich sollte...ein Arzt." Er fühlte sich schrecklich, ihr jetzt eine Lüge aufzutischen, aber was war die Alternative? Edyta war ein Muggel, ihr jetzt zu erklären, was mit ihm geschah, würde viel zu lange dauern und Remus hatte ganz ehrlich nicht die Kraft dazu. "Kannst du...?" 

Sie drückte seine Hand. 

"Ich pass auf sie auf." Sie stand auf. "Ich rufe jemanden an, der dich zum Krankenhaus bringt, die Jacksons haben ein Auto, Quinn kann sicher..." 

Remus schüttelte den Kopf. 

"Ich schaff das", versicherte er ihr. "Es ist nicht so weit, ein wenig Laufen schadet mir sicher nicht. Ich brauch nur..." Er holte tief Luft, sie legte eine Hand an seinen Arm. 

"Ok", sagte sie. "Bist du sicher? Es wäre kein Problem." 

Er nickte. 

"Ich bin sicher." 

Sie wirkte, als wollte sie protestieren, entschied sich dann aber dagegen. 

"Wenn du morgen früh nicht wiederkommst, ruf an", sagte sie nachdrücklich. "Ich kümmere mich um Julie, kümmer du dich darum, wieder gesund zu werden." 

Remus nickte und aus einem Impuls heraus umarmte er sie. 

Es war der Moment, in dem ihm auffiel, wie lange er niemanden mehr umarmt hatte. Das letzte Mal...ja, das letzte Mal war Sirius gewesen, als sie sich im Oktober verabschiedet hatten. 

Er kroch beinahe die Treppen hinunter, disapparierte, sobald er um die nächste Straßenecke kam. 

~~~~~

Der Vollmond war einer der schlimmeren, aber Remus hatte inzwischen Routine. Gegen Mittag am nächsten Tag traute er sich zu, klar zu denken, zu reden, zu disapparieren und vielleicht sogar selbstständig zu stehen, ohne hier übermütig werden zu wollen. 

Wäre er noch immer siebzehn und in Hogwarts, hätte Poppy ihn vermutlich noch 24 Stunden lang nicht aufstehen lassen, aber er war nicht siebzehn sondern zweiundzwanzig (einsamster Geburtstag aller Zeiten), er hatte eine Tochter, also apparierte er zurück nach Little Whinging. 

In Edytas Wohnung war alles still, aber aus seiner eigenen hörte er das dumpfe Klappern von Geschirr. Er trat ein, achtete dabei darauf, möglichst laut aufzutreten, dass Edyta mitbekam, dass er wieder da war. 

Sie war in der Küche und wusch die Utensilien ab, die man brauchte, um die Milch für Julie herzustellen. Das Baby selbst trug sie in einer Art Tragetuch, das aussah, wie improvisiert aus einem Schal hergestellt, aber Remus nahm sich vor, sich von ihr zeigen zu lassen, wie man es band, denn Julie zu tragen und beide Hände frei zu haben, sah definitiv nach etwas aus, was ihm gefallen würde. 

"Guten Morgen", grüßte er sie leise und auf einmal überrollte ihn die Scham für das, was er gestern getan hatte. Er hatte sein drei Wochen altes Baby, das alle drei Stunden gefüttert und noch häufiger gewickelt werden musste, mehr oder weniger kommentarlos bei seiner Nachbarin abgestellt, die er seit gerade mal vier Monaten kannte. Was für eine Art Vater war er eigentlich?

Das Absurdeste war - sie schien überhaupt nicht sauer zu sein. Sie wirkte eher besorgt. 

"Guten Morgen", grüßte sie zurück. "Sie haben dich schon gehen lassen? Du siehst nicht besonders gut aus." Sie drückte ihn auf einen der Küchenstühle, dann setzte sie den Wasserkessel auf. "Verzeih mir den Einbruch, aber ich habe keine Utensilien, die ein Kind braucht." Sie zwinkerte. Er starrte sie an. 

"Entschuldigung, dass ich dir einfach so Julie aufgedrückt habe", flüsterte er. Sie hielt inne, dann musterte sie ihn streng. 

"Na hör mal", sagte sie dann. "Das ist doch selbstverständlich. Jeder wird mal krank und wenn man ein Kind alleine groß zieht, dann wird man sich früher oder später darauf einstellen müssen, dass man in solchen Momenten Hilfe braucht." Sie nahm eine Tasse aus dem Schrank, öffnete dann einige Küchenschränke, bis sie anscheinend das gefunden hatte, was sie suchte. 

"Ich hab ein...Problem", gestand er leise. "Ein...gesundheitliches. Es ist nicht schlimm, ich kann damit gut leben, es ist nur...alle paar Wochen kommt eine...Welle. Und es knockt mich völlig aus." Er starrte auf seine Hände auf dem Küchentisch. 

Eine Tasse wurde vor ihn auf den Tisch gestellt, die eine klare Flüssigkeit (heißes Wasser?) enthielt, die den intensiven Geruch von Zitrone und Honig verströmte, dann setzte sich Edyta neben ihn und strich ihm beruhigend über die Schulter. 

"Das ist als Alleinerziehender sicherlich nicht ideal", gab sie zu. "Aber du bist nicht komplett auf dich gestellt." 

Es war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Wie eine Welle brach es über Remus zusammen und auf einmal übermannte es ihn mit einer Wucht, mit der er nicht gerechnet hatte und er brach zusammen. Dort und dann begann er zu weinen, wie ein kleines Kind. 

"Ich sollte es nicht allein machen müssen", wisperte er, immer wieder. "Wir wollten sie zu zweit großziehen, wir hatten Freunde, sie wollten alle helfen und sie sind alle...sie sind alle tot. Ich bin als einziger übrig. Oh Gott, ich bin als einziger übrig..." 

Edyta hielt ihn fest, während er in ihre Schulter schluchzte, als er sich nach Monaten des Verdrängens und der Wut und der Verhandelns endlich erlaubte, zu trauern. 

"Biedny, biedny chłopak", murmelte sie immer wieder, "biedny, samotny chłopak," und Remus hatte keine Ahnung, was es bedeutete, aber es war ihm egal, solange sie ihn nur länger festhalten würde. 

"Wir waren acht Leute", berichtete er irgendwann, leise, heiser. "Sieben Freunde und ich, frisch aus der Schule. In einem Jahr hab ich sie alle verloren. Eine im November, eine an Weihnachten, eine im Oktober danach. Die restlichen vier in einer Nacht." Er holte zittrig Luft. "Alle, die noch übrig waren, die mir wichtig waren. Auf einen Schlag. Lily und James Potter waren dabei. Die Eltern vom kleinen Harry aus Nummer vier. Und mein...mein...Julies..." 

Edyta zog ihn einfach wieder an sich. 

"Wie viel Leid kann ein einzelner Mensch nur erfahren?", murmelte sie leise. Remus lachte freudlos in ihre Schulter. 

Die Antwort auf diese Frage hätte er auch gern gekannt. 





"Biedny, samotny chłopak" ist Polnisch und bedeutet "armer, einsamer Junge". mond48, es tut mir leid, wenn du möchtest, kannst du die Zeile beim Lesen einfach ersetzen durch "Sie murmelte immer wieder etwas auf Polnisch und Remus hatte keine Ahnung was es bedeutete..." xD

Es tut mir so leid, ich weiß, ich hatte fröhlichere Kapitel versprochen, aber ich schwöre, diesmal wirklich, das schlimmste ist vorbei. Es ist nur...Trauer ist kein linearer Prozess. Ein Schritt vorwärts, zwei zurück. Heute gab es die zwei zurück - übermorgen gibt es einen Gastauftritt von jemandem, mit dem ihr in dieser Geschichte sicherlich nicht gerechnet hättet. Und ab Samstag geht es wirklich steil bergauf. Denn der Klappentext verspricht ja immer noch eine Frau in der Familie...





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