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Sobald es halb eins war und die Mittagspause des Buchladens begonnen hatte, hörte Remus, wie Mary unten die Tür abschloss und die Treppe nach oben sprintete. Sie kam in der Wohnzimmertür schlitternd zum Stehen, wo Remus seit einigen Minuten lehnte und Jerry beobachtete, der auf dem Sofa zusammengerollt eingeschlafen war. Kurz wartete sie, ob er von sich aus etwas sagte, aber er wusste nicht wirklich, wo er hätte anfangen sollen. 

"Remus?", wisperte sie also. "Wer zur Hölle ist das?"

Remus drehte sich zu ihr um. 

"Er heißt Jerry", sagte er, obwohl das die einzige Information war, die Mary bereits hatte. Er fuhr sich durchs Gesicht, nicht so richtig wissend, wo er ansetzen sollte, all das zu erklären. "Kann er...kann er eine Weile bleiben? Wenn er will?"

Mary musterte ihn, für einen Moment wirkte es so, als wollte sie etwas sagen, protestieren, die Verwirrung war ihr ins Gesicht geschrieben. 

"Es ist deine Wohnung, natürlich kann er bleiben, wenn du das möchtest", sagte sie dann. "Aber Remus...wer ist er? Woher kennst du ihn?"

Remus holte tief Luft, dann schloss er die Wohnzimmertür und ging hinüber in die Küche, wo er einen Tee aufsetzte. Sie folgte ihm, lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und sah ihn erwartungsvoll an. 

"Erinnerst du dich noch an die Missionen, die ich im Krieg gemacht habe?", fragte er. Sie nickte. "Die meisten von ihnen waren über den Vollmond. Ich war bei mehreren Werwolfrudeln, habe mich umgehört, was die Todesser ihnen anbieten, auf welche Seite sie sich wohl schlagen. Ich sollte auch für unsere Seite werben, wenn möglich, aber dazu ist es nie wirklich gekommen. Das größte Wolfsrudel in England zu der Zeit waren ungefähr dreißig Leute und darauf waren die Todesser fokussiert, also war ich auch darauf fokussiert." Er spielte am Saum seines T-Shirts herum. "Raoul Rawlins war mein Deckname. Ich hab über ein Jahr jeden Vollmond bei ihnen verbracht und dabei ein paar von ihnen besser kennen gelernt. Einer davon war Jerry." 

Mary sah hinüber zur verschlossenen Wohnzimmertür und ihre Augen weiteten sich.

"Also ist er..."

"Ein Werwolf, ja." Remus nickte. Mary blinzelte, schien das kurz verarbeiten zu müssen. 

"Er ist doch unmöglich siebzehn", sagte sie dann. "Warum ist er nicht in Hogwarts?" 

Remus lachte leise und freudlos. 

"Jerry ist kein Zauberer, Mary", sagte er dann leise. "Er war einfach ein Muggelkind, was zur falschen Zeit am falschen Ort war. Nachdem er gebissen wurde, hat ihn das Rudel aufgenommen und großgezogen. Er kennt kein anderes Leben als im Wald, versteckt, als wäre die eigene Existenz etwas, wofür man sich schämen muss." Er presste bitter die Lippen zusammen. "Ich bin nicht repräsentativ für Werwölfe in Großbritannien", erinnerte er Mary. "Ich hatte Glück. Die meisten von uns leben ihr gesamtes Leben fern von Zivilisation. Willkommen in der britischen Zauberergemeinschaft." 

Mary fuhr sich durch die Haare. 

"Was zur Hölle", sagte sie entsetzt. "Wie konnte ich sieben Jahre in Hogwarts zur Schule gehen ohne dass es jemand für nötig erachtet hat, das mal zu erwähnen?" 

Remus schnaubte. 

"Aus dem gleichen Grund, warum die Zentauren als blutrünstig dargestellt werden und warum uns erzählt wird, dass Hauselfen gerne unbezahlt arbeiten. Aus dem gleichen Grund, warum der Ausgang der Koboldkriege als 'Einigung' beider Seiten dargestellt wird und nicht als das was es war: ein Diktatfrieden gefolgt von jahrhundertelanger Unterdrückung. Oder warum von Squibs erwartet wird, dass sie ein Leben als Muggel führen, weil sie nicht mehr ins perfekte Bild der Zaubererwelt passen." 

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