Kapitel 1

111 7 7
                                    

BIANCA

Encanto war mein Zuhause seitdem ich denken konnte. Noch nie war ich irgendwo anders gewesen und das wollte ich auch gar nicht. Es war hier viel zu schön, um das Dorf jemals zu verlassen! Ich liebte es hier und ich wollte niemals weggehen! Das Dorf wurde von der Familie Madrigal beschützt, die das Dorf auch aufgebaut hatten. Sie hatten ein Wunder geerbt und jedes der drei Kinder von Alma Madrigal hatte eine magische Gabe zu ihrem fünften Geburtstag erhalten. Julieta, die älteste der Drillinge, hatte die Gabe mit ihrem Essen Verletzungen zu heilen, Pepa hatte die Gabe, mit ihren Gefühlen das Wetter zu verändern und Bruno... Um ehrlich zu sein, war ich mir nicht sicher. Das ganze Dorf redete nicht über Bruno. Angeblich war er nachdem er etwas schlechtes gesagt hatte, ziemlich wütend verschwunden und keinen hatte es interessiert. Also gab es nun nur noch die zwei Schwestern und ihre Mutter. Obwohl beide Mädchen siebzehn und damit ein Jahr älter als ich waren, verstanden wir uns sehr gut und ich besuchte sie beinahe täglich. Sie redeten auch nicht über ihren Bruder und jedes Mal, wenn jemand danach fragte, brach über Pepa ein heftiges Gewitter aus, das sich kaum bändigen ließ. Also hatte sich jeder angewöhnt, nicht mehr über ihren Bruder zu reden und das störte auch keinen. Alles, was ich wusste, war, dass er nicht sonderlich nett gewesen war und auch eine Menge Unheil gebracht hatte. Um ehrlich zu sein, hatte ich sogar Angst vor ihm. Angeblich sollte er über zwei Meter groß sein und ständig Ratten um sich herum haben! Und angeblich sollte er sich an dem Grauen anderer ergötzen! Ich hatte Alpträume von ihm und ich hoffte inständig, dass er niemals zurückkommen würde und ich ihn niemals sehen musste! Ich saß gerade auf dem Brunnen und las den Kindern wie jeden Tag vor, als Julieta und Pepa ins Dorf kamen. Sie setzten sich hinter den Kindern auf den Boden und lächelten mich an, während ich den Kindern weiter vorlas. So verbrachte ich meine Tage am liebsten. Auf Kinder aufpassen und ihnen etwas vorlesen. Ich liebte Kinder und ich wollte unbedingt selber welche, aber dazu war ich noch etwas zu jung. Außerdem hatte ich keinen Freund, also würde das mit dem Kind wohl nichts werden. Zumindest nicht im Moment. Nachdem ich mit der Geschichte fertig war, wollten die Kinder unbedingt eine Zugabe, aber ich versprach ihnen, später weiterzulesen, also standen sie auf, um zum Essen nach Hause zu gehen. Ich stand vom Brunnen auf und ging zu meinen Freundinnen, um mich zu ihnen zu setzen.
"Was macht ihr zwei denn hier?", fragte ich nach. "Wollt ihr auch unbedingt alte Märchen hören?"
"Nein, sonst würden wir in unserem Kinderzimmer sitzen und uns selber Geschichten vorlesen", antwortete Julieta. "Wir wollten dir nur das hier geben, Bia." Sie hielt mir einen kleinen Brief hin, den ich sofort annahm. Ich faltete das kleine Papier auseinander. Es war eine Einladung zum achtzehnten Geburtstag der beiden in wenigen Tagen. Ich lächelte die zwei an.
"Natürlich komme ich, darauf könnt ihr Geld verwetten!", rief ich begeistert. "Ihr werdet echt achtzehn, das ist der Wahnsinn!" Die beiden nickten.
"Ja, es wird toll! Wir haben schon alles geplant! Die Deko wird bunt und es gibt eine Menge Essen und Aguardiente und um Mitternacht machen wir ein riesiges Feuerwerk!", rief Pepa aufgeregt, über ihr bildete sich dabei ein kleiner Regenbogen. Ich musste lachen. Sie freute sich wohl auf diesen Tag, aber wer würde das nicht?
"Das klingt wirklich toll! Aber sagt Bescheid, wenn ich euch bei etwas helfen kann", bot ich an, die beiden nickten.
"Du könntest beim Schmücken helfen", schlug Julieta vor, ich nickte.
"Natürlich", stimmte ich schnell zu. "Ich helfe euch gerne!"
"Danke, du bist die Beste! Mamá fällt dir um den Hals, sobald sie weiß, dass du kommst!", meinte Pepa. "Und sie hat gefragt, ob du heute zum Essen kommen möchtest."
"Ja, gerne", stimmte ich zu. "Soll ich dann um sechs Uhr vorbeikommen? Meine Eltern haben nichts dagegen, da bin ich mir sicher."
"Toll! Dann bis später!" Die zwei umarmten mich und liefen dann zurück zu ihrem Haus, während ich mein Buch nahm, um zurück nach Hause zu gehen. Ich musste dringend etwas trinken und danach musste ich den Kindern wahrscheinlich wieder etwas vorlesen. Etwas anderes wollten die kleinen Frechdächse ja nicht! Es freute mich aber zwar, dass sie meine Lesekünste mochten, aber trotzdem brauchte ich ab und an mal einen Schluck zu trinken. Ich kam an dem Gemälde der Familie Madrigal vorbei und sah Brunos ausgebleichtes Bild. Es würde auch sein Geburtstag sein, aber er würde nicht bei seiner Familie sein. Eigentlich war es traurig, aber da er ja anscheinend etwas Schlimmes getan hatte, war es wohl besser so, dass er weg war, richtig? Über den Weg laufen wollte ich ihm nämlich definitiv nicht! Aber das würde ich auch nie, schließlich war er seit über zehn Jahren verschwunden! Wieso sollte er also jemals zurückkommen?

The evil within Where stories live. Discover now