Kapitel 10

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Drei Tage später saßen die beiden wieder im Klassenzimmer und arbeiten an den Aufgaben. Taehyung sprach nicht und beobachtete Jungkooks Rechenweg mit scharfen Augen. Jungkook hatte keine Zeit, zu einem Ergebnis zu kommen, als die Glocke schrill klingelte und das Ende der Stunde verkündete.

Verdammt.

Er war langsamer als ein Faultier.

„Taehyung", jammerte er. „Ich bin zu langsam! So werden wir nie fertig."

Eine Idee schoss wie ein Blitz durch Jungkooks Gehirn—eine vermutlich sehr komische und riskante Idee, wenn er Taehyungs desinteressiertes Gesicht so betrachtete.

Taehyung sah ihn nicht mal an, wenn er mit ihm sprach!

„Wir... wir können die Aufgaben auch bei mir Zuhause weitermachen. Du—Du kannst nach der Schule gleich zu mir kommen!"

Taehyungs Gestalt erstarrte.

Es vergingen Sekunden, in denen sein Gesichtsausdruck nur dunkler wurde. Verbissener.

Ich verstehe dich nicht, dachte Jungkook traurig. Ich möchte dich doch nur verstehen.

Taehyung kritzelte dann etwas auf ein Blatt Papier, seine Brille rutschte ihm dabei etwas nach unten.

Nein, schrieb er.

Oh, er konnte plötzlich antworten?

„Nein", wiederholte Jungkook. „Nein? Wieso?"

Er testete heute definitiv ein paar Grenzen aus—das lag vermutlich an seinem Schlafmangel.

Taehyung umkreiste das Wort ein paar Mal.

„Aber... du—du..." Jungkook nahm einen tiefen Atemzug. „Ich sehe doch, wie unwohl du dich in der Klasse fühlst. Wenn wir bei mir Zuhause sind, starrt dich keiner an und wir können uns Zeit lassen bei den Aufgaben." Er überlegte kurz. „Ich kann mir Zeit lassen. Du siehst doch, wie langsam ich bin!"

Jungkook erwähnte nicht, wie sehr es ihn freuen würde, Taehyung bei sich zu Hause zu haben.

Er stellte sich vor, wie Taehyung in seinem Zimmer rumstöberte und bemerkte, dass er kein einziges Buch besaß, sondern nur Videospiele und CD's.

Er stellte sich vor, wie Taehyung seine Unordnung musterte, denn Jungkook war der Inbegriff von Chaos und Unordnung. Viel zu oft hatte ihm seine Mutter schon gedroht, dass sie mit dem Müllsack durch das Zimmer stampfen und all seine Sachen, die am Boden lagen, wegschmeißen würde. Nur sie tat es dann doch nie.

Und am meisten stellte er sich vor, wie Taehyung mit ihm reden würde—ob er überhaupt reden würde. Er kannte Taehyung nur aus der Schule und laut Gerüchten musste er doch mal gesprochen haben! Jungkook glaubte nicht, dass er wirklich nie sprach.

Jungkook wurde aus den Gedanken gerissen, als Taehyung das Wort ein weiteres Mal einkreiste.

Enttäuschung erfasste seinen ganzen Körper.

„Okay", murmelte er ergeben. „Okay."

Taehyung erhob sich, um in die Pause zu gehen, aber...

Es irritierte ihn!

„Aber warum?", fragte Jungkook nochmal. Seine Stimme klang etwas weinerlich.

„Jungkook, kommst du?", rief Jin etwas weiter weg, der gemeinsam mit Hoseok und Jimin auf ihn wartete. Er blickte interessiert zwischen Taehyung und Jungkook her. Dann hob er eine Augenbraue.

Ich will dein Mitleid nicht, schrieb Taehyung wild. Der Klassenraum geht in Ordnung. Die anderen stören mich nicht.

„Jungkook", rief Hoseok ungeduldig. „Komm schon, sonst kriegen wir nichts mehr zu essen."

„Mitleid? Was!", stotterte Jungkook. „Ich— Ich bemitleide dich nicht! Gar nicht! Wie kommst du darauf?!"

Taehyung sah ihn grimmig an.

„Tu ich nicht!"

„Jungkook!"

„Ja", schrie er zurück und drehte sich zu seinen Freunden. „Gleich!"

Als er sich wieder umdrehte war Taehyung bereits auf dem Weg nach draußen, ein Buch in der Hand, dass er sich fest gegen die Brust drückte. Jungkook starrte ihm mit offenem Mund hinterher.

Er bemitleidete ihn nicht!

„Hast du dich gerade allein mit Taehyung unterhalten?", fragte Jin, als Jungkook zu ihnen rüberkam.

„Ja, er hat mir sogar geantwortet", sagte Jungkook mit etwas Stolz in der Stimme. Es war keine besonders... erfolgreiche Unterhaltung gewesen, aber es war eine.

„Hm", summte Hoseok. „Komisch."

„Was?"

„Er ist komisch", zuckte Hoseok mit den Schultern. Etwas in Jungkook verkrampfte sich bei den Worten. „Ich verstehe nicht, wieso er nicht normal antwortet. Wenigstens, wenn die Lehrerin ihn etwas fragt. Das ist für mich alles so... unverständlich."

„Er wird seine Gründe haben", meinte Jungkook bloß. „Ich— wir kennen ihn nicht."

Jungkook spürte, wie etwas hässliches in seinem Inneren brodelte—aber er unterdrückte das Gefühl und versuchte, Hoseoks Aussage zu ignorieren.

Wie viele Leute gab es, die Taehyung so unterschätzten?

Zu viele.

„Können wir gehen?", fragte Jimin. Seine Lippen waren spröde und seine Augen blutunterlaufen. Jungkook schwankte etwas unbehaglich auf den Füßen, als seine Gedanken von Erinnerungen an ihre Interaktion überflutet wurden.

„Yoongi?", fragte Jungkook leise. Er bekam ein ungutes Gefühl im Magen.

Jimin schloss die Augen. „Nein, noch immer nichts."

Jin sagte: „Ich fahre nachher wieder zu ihm, willst du mit?"

Jungkook nickte schnell, seine Augen groß und bittend.

Hoseok sagte: „Ich komme auch mit. Namjoon gibt heute Nachhilfe, er kann leider nicht."

Alle sahen zu Jimin. Das ungute Gefühl in Jungkooks Magen drehte und wandte sich.

Was würde passieren, wenn Jimin Yoongi aufgab?

Yoongi verdiente Freunde, die ihn unterstützten und nie im Stich ließen. Er verdiente die Welt—und noch so viel mehr.

„Was seht ihr mich so an? Natürlich komme ich auch mit." Er atmete tief ein. Seine Stimme klang etwas zittrig. Sie klang jedes Mal zittrig und traurig, wenn jemand Yoongi erwähnte. „Natürlich komme ich mit."

Jimin blickte Jungkook an und seine Lippen verzogen sich zu einem unsicheren Lächeln, die Entschuldigung in seinen Augen klar und deutlich und nur an Jungkook gerichtet—die anderen beobachteten still ihren nonverbalen Austausch.

Jungkook zögerte nicht lange, schlang beide Arme um Jimin und drückte ihn glücklich und erleichtert an sich.

„Vergeben und vergessen", murmelte Jungkook in seinen Hals.

Jimin kicherte leise und etwas atemlos, dann erwiderte er Jungkooks Umarmung. Wenn seine Arme Jungkook etwas zu fest drückten, sagte Jungkook kein Wort, sondern saugte die Wärme in sich, bis er das Gefühl hatte, von Jimin komplett umgeben zu sein.

Beide brauchten die Umarmung mehr als sie glaubten.

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Ich hoffe, die Kapitel sind nicht zu langweilig, aber die beiden müssen zuerst durch die Kennenlernphase und erst dann geht's richtig los!! <3 (bzw. Taehyung muss ein bisschen auftauen, bevor hier irgendwas passiert, es ist immerhin nicht einfach für ihn👀)

Danke an alle für die Votes und Kommentare, die machen mich so glücklich und ich bin sehr dankbar, dass ihr euch für meine kleine Geschichte Zeit nehmt❤️ Wirklich danke.

All The Words You Never Said [VKOOK]Место, где живут истории. Откройте их для себя