19. Auf sich allein gestellt

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Ich begleitete meine Mutter immer wieder auf Touren. Als irgendwann in unserer Nähe alles leer geräumt war, trauten wir uns immer weiter. Meist hatten wir ruhige Nächte, in denen wir weit liefen, aber kaum jemanden sahen.
Größere Entfernungen bedeuteten allerdings auch, dass wir Noah länger alleine lassen mussten. Nachdem er eines Morgens aus seinem Raum im Keller entkommen war und wir ihn in seinem Zimmer fanden, entschied unsere Mutter, dass sie nur noch alleine auf längere Touren gehen würde, damit ich zu Hause bleiben und auf meinen Bruder aufpassen konnte.
Und dann passierte es. Genau genommen erfuhr ich niemals, was genau passiert war. Eines Abends verließ meine Mutter das Haus, auf dem Weg zu einem Supermarkt einige Orte entfernt, auf der anderen Seite des Sees. Wie immer konnte ich ihre Rückkehr kaum erwarten. Ich wartete einen Tag, dann zwei, drei und vier. Vielleicht war sie einfach etwas weiter gegangen, weil sie einen Tipp aufgeschnappt hatte.
Am fünften Tag begann ich, mir ernsthafte Sorgen zu machen. So lange war sie noch nie weggeblieben, auch nicht, wenn sie sich vor einer Bande Banditen hatte verstecken und irgendwo länger ausharren müssen.
Als eine Woche vergangen war, seit sie mich verlassen hatte, setzte die Resignation ein. Ich fand mich langsam aber sicher damit ab, dass sie nicht wiederkommen würde, dass ihr irgendetwas passiert sein musste. Vielleicht hatten Banditen sie gefangen, vielleicht war sie erschossen worden, vielleicht hatten Cranks sie erwischt. So oder so war ich mir spätestens nach zwei Wochen sicher, dass sie nicht zurück kommen würde. Niemals hätte sie Noah und mich so lange alleine gelassen, ohne ausreichend Vorräte. Alles was ich mir von ganzem Herzen wünschte, war, dass sie nicht zu einem von diesen Dingern geworden war, keuchend, röchelnd und mordend umherlief und versuchte, Menschen zu fressen.
Nicht ausreichende Vorräte waren das Stichwort. Nach einem Monat, den ich mich so sparsam wie möglich ernährt und Noah so wenig wie möglich gegeben hatte, wurde mir klar, dass ich etwas tun musste, andernfalls würde zuerst ich und irgendwann dann auch er verhungern, wenn er mich nicht vorher aufaß.
Also öffnete ich am 32. Tag nach dem Verschwinden meiner Mutter den Waffenschrank, holte mir eine Pistole, verstaute diese und mein Messer in meiner Tasche und machte mich auf den Weg um den See herum. Ich musste mich öfter verstecken als jemals zuvor und hatte das Gefühl, dass die Banditen weiter vorgerückt waren. Aber ich schaffte es bis zu einer verlassenen Tankstelle, bei der nächsten Tour bis zu einem kleinen Supermarkt und danach bis zu einem Walmart, in dem es noch erstaunlich viele Vorräte gab.
Ich wurde immer besser in dem, was ich tat, wurde eine richtige Überlebenskünstlerin, fütterte den Crank in meinem Keller, hielt ihn so gut es ging bei Laune und schaffte es, nicht ein einziges Mal von irgendjemandem gesehen zu werden. Das dachte ich zumindest. Später sollte sich herausstellen, dass es jemanden gab, der ganz genau wusste, dass es mich gab, in diesem Haus in der Vorstadt, ganz auf mich alleine gestellt. Jemand, der in meiner Geschichte noch eine sehr große Rolle spielen würde. Aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich fühlte mich völlig alleine auf diesem kaputten Planeten.
Abends, wenn ich in dem Bett meiner Mutter lag, den Geruch des Kissens einsog, auf dem sie immer geschlafen hatte und das Buch in der Hand hielt, das Noah mir geschenkt hatte, an dem letzten Geburtstag, der einem solchen nahe kam, liefen mir oft die Tränen die Wangen herunter. Meist schluchzte ich nicht einmal mehr. Das Weinen war schon so normal geworden, die Trauer und Einsamkeit alte Bekannte, dass ich es kaum noch wahrnahm. Es war ein Dauerzustand, neben dem ich kaum mehr anderes kannte.
Manchmal waren es die Worte, die ich las, manchmal einfach der Anblick von Noahs Schrift, manchmal der Geruch meiner Mutter. Aber immer war es die Erinnerung, die mich innerlich zu zerreißen drohte. Aber ich durfte nicht aufgeben, das war alles, was ich wusste. Ich musste weiter machen, jeden Tag aufstehen, immer wieder auf Vorratstouren gehen. Für den Crank im Keller. Für meinen Bruder. Für Noah.
Den Jungen, der diese Zeilen geschrieben hatte, über die ich immer wieder mit den Fingern fuhr, als könnte ich mit der Seite auch die Zeit berühren, in der dieses entstanden war. Als er noch mein Bruder gewesen war. Als die Welt noch in Ordnung gewesen war.
Liebe Franci, stand dort. Herzlichen Glückwunsch zu Deinem achten Geburtstag. Ich wünsche Dir alles Liebe und Gute, Liebe und Glück. Klingt schmalzig, schon klar. Aber ich meine es ernst. Du verdienst all das und noch viel mehr. Vor allem aber wünsche ich Dir Zeit, denn das ist es, was wir wirklich brauchen. Zeit, um zu lachen, um zu weinen. Zeit, um zu atmen. Nimm dir dieses Buch, um keine Zeit zu vergessen, keine Zeit zu verlieren. Du kannst hier aufschreiben, was Dich glücklich macht, aber auch, was Dich wütend macht. Vielleicht bin das ja auch mal ich. Ich hab Dich mehr lieb als die Sterne den Mond, Schwesterherz. Ich hoffe, dass dieses Buch und die Kette Dich immer daran erinnern, auch wenn ich vielleicht mal nicht bei Dir sein kann. Und jetzt lass uns endlich mit Deinen anderen Geschenken spielen! Dein Noah
Und das taten sie, diese beiden Dinge. Vom ersten Tag an, mein ganzes Leben lang, egal wohin es mich führte. Auch an dem Tag, an dem ich in den Keller kam, über zwei Jahre nach dem Verschwinden meiner Mutter. Als mein Bruder dasaß, ruhig, mich ansah und wieder er selbst war. Der, der mir diese Nachricht zu meinem Geburtstag geschrieben hatte, die eine solche Tiefe besaß, wie sie ein elfjähriger Junge nicht kennen sollte.
Als ich vor ihm in die Hocke ging, ihm in die Augen blickte, die völlig klar waren, die, eines sechzehnjährigen Jungen, der mehr durchgemacht hatte, als ein Mensch es müssen sollte, umklammerte ich die Kette, in deren Inneren sich ein Bild von Noah und mir als Kinder befand. Er hatte für diesen Moment den Kampf gegen das Virus in seinem Kopf gewonnen. Und er hatte eine Entscheidung getroffen.
"Bitte, Franci", sagte er, seine Stimme war wieder die alte. "Beende es."

Behind The WICKED Truth | A Maze Runner NovellaTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang