10. Wie eine leere Hülle

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Ein Mal mehr blendete mich ein grelles Licht. Ich kniff die Augen zusammen und schnappte entsetzt nach Luft, als ich Stimmen hörte. Zuerst war es, als läge eine Taubheit auf meinen Ohren, aber langsam konnte ich immer mehr von dem verstehen, was sie sagten. Ich erkannte, dass es Shepherd und der Mann, der uns vor dem Hangar abgefangen hatte, waren, die dort redeten, scheinbar am Fußende des Bettes, auf dem ich lag.
"Ich verstehe es wirklich nicht. Wie kann Paige sie noch immer wollen, nachdem sie dich angegriffen hat, Jean?", fragte der Mann mit dem Rattengesicht.
"Dr. Paige weiß, was sie tut, Onkel Aiden. Von allen ist sie diejenige, die uns bisher am meisten voran gebracht hat. Sie will das Mädchen unbedingt. Ihre Gehirnaktivitäten sind sehr besonders. Ihr IQ ist unglaublich hoch. Das hatten wir bisher nur bei drei weiteren Probanden."
Onkel? Deshalb dieses schreckliche Grinsen.
"Ich weiß. Ich habe selbst mit ihr gesprochen. Aber B6 haben wir auch an keine führende Position herangelassen, falls dir das entfallen ist."
"Und das nur, weil du der Meinung bist, dass sie uns gefährlich werden könnte." Ich glaubte, ein leichtes Necken in ihrer Stimme zu hören.
Der Rattenmann schnaubte. "Sie ist nichts weiter als ein dummes, naives Mädchen. Aber sie zu viel Zeit mit A2 verbringen zu lassen, wäre töricht. A1 eignet sich besser, sie ist manipulierbarer, sie glaubt das, was wir ihr sagen. Irgendetwas ist mit ihrer Mutter passiert, ich habe es nicht genauer nachgelesen. Uninteressant. Was zählt ist, dass sie tut, was wir ihr sagen. Und der Junge hört auf sie. Zusammen werden sie uns noch sehr nützlich sein."
"Wenn du mich fragst, ähnelt A6 B6 mehr, als du glauben magst. Vielleicht solltest du dir um sie auch Sorgen machen." Dieses Mal war ich sicher, dass ich ein Lachen in Shepherds Stimme hörte.
Wieder schnaubte der Rattenmann. "Wie dem auch sei. Wie es aussieht, wird sie jetzt dein Problem sein. Paige hat mir mitgeteilt, dass sie das B-Labyrinth planen und später beobachten soll - und das macht sie zu deiner Mitarbeiterin. Schlag dich mit ihr rum - aber lass dich nicht nochmal von ihr schlagen. Wenn du mich fragst, solltest du ihr ein paar Manieren beibringen."
Jetzt lachte Shepherd nicht mehr. "Ich denke, sie hat schlimmes mitgemacht. Aber sie wird tun, was wir ihr sagen. Diese Jungen waren alles, an was sie sich noch geklammert hat. Ich werde dafür sorgen, dass sich das ändert. Ihre Arbeit wird das werden. Jetzt, wo die Jungen weggebracht werden, werde ich ihr alles beibringen, was ich weiß und was sie brauchen wird, wenn die Experimente beginnen. Wir reisen noch heute ab, sobald sie zu sich kommt. Diese Elektroschocker wären wirklich nicht nötig gewesen."
"Ich habe dir nur einen Gefallen getan. Und jetzt komm. Wir müssen Paige anrufen und ihr Bericht erstatten."
"Ja, Onkel Aiden."
Und damit verließen sie den Raum.
Ich lag eine ganze Zeit einfach nur so da. Mein Körper fühlte sich von den Krämpfen, die der Elektroschocker durch ihn gejagt hatte, steif an, als hätte ich starken Muskelkater. Aber das war es nicht, was die Tränen auslöste, die meine Wangen herunterzulaufen begannen und dies auch noch taten, als ich mich irgendwann dann doch aufsetzte und zuließ, dass eine medizinische Mitarbeiterin mir etwas zu essen reichte.
Ich aß das Brot, schluckte es herunter. Aber ich schmeckte es nicht. Eine Taubheit, wie ich sie anfangs nur auf den Ohren gespürt hatte, breitete sich immer weiter in meinem Körper aus. Und sie kam nicht von dem Elektroschocker. Sie kam aus meinem Innersten, legte sich über meine Sinne, legte sich über mein Herz.
An diesem Tag wusste ich es zwar noch nicht, aber diese Taubheit würde für die nächsten zwei Jahre mein Schutzschild sein. Ich würde lernen, zu tun, was man von mir verlangte - was Shepherd von mir verlangte. Ich würde die Gedanken an all die, die mir einmal etwas bedeutet hatten, an Noah, meine Eltern, Isaac, George und die anderen vier Jungen, mit denen ich versucht hatte, zu entkommen, in einem versteckten, abgelegenen Ort in meinem Kopf verschließen und nicht mehr an mich heran lassen.
Und so lebte ich. Shepherd brachte mir bei, wie man die Systeme bediente, wie ich Zugriff auf alles erhielt, was ich brauchte, um das zu tun, womit man mich beauftragt hatte. Pläne für ein riesiges Labyrinth zu entwickeln, in das WICKED Probanden schicken wollte. Die Tests hatten bereits begonnen, in der großen Haupteinrichtung, wo alle Probanden lebten, bis sie an der Reihe waren. Das war alles, was ich erfuhr. Ich wusste, dass George ausgewählt worden war, zu irgendetwas, was mit dieser bevorstehenden Reihe an Experimenten zu tun hatte. Aber ich stellte keine Fragen über das, was sie mit dem vorhatten, was ich da plante. Ich wusste, dass zwei weitere Jugendliche in meinem Alter, ein Junge und ein Mädchen, im Hauptquartier ebenfalls planten, wie die Labyrinthe aussehen sollten. Ich sprach nie mit ihnen, lernte sie nie kennen, kannte nicht einmal ihre Namen. Alles, was ich über sie wusste, waren ihre Nummern. Immer ging es nur um Nummern. A1 und A2. Das klang wichtig. Von B6 hörte ich nie wieder, nachdem ich Janson - was der Name von Shepherds Onkel, dem Rattenmann, war - und seine Nichte belauscht hatte. Nie wieder, bis dieses Mädchen entschied, alles zu verändern. Für sich, für ihre Freunde - und für mich.
Aber das wusste ich noch nicht. Ich lebte einfach das Leben, das man mir gegeben hatte. Nahm die zweite Chance, die sie mir gegeben hatten, an, verdrängte meine Vergangenheit so gut ich konnte. An dem Tag, an dem man mich von George und den anderen trennte, verlor ich mit ihnen auch meine letzte Hoffnung.
Erst zwei Jahre später, als Shepherd vor mir stand, rote Augen, als habe sie geweint, aber die gleiche kühle und ausdruckslose Stimme, die ich von ihr gewohnt war, war es, als wachte ich zum ersten Mal auf, als regte sich zum ersten Mal etwas in der leeren Hülle, zu der mein Körper geworden war.
"Francesca, es gibt Neuigkeiten. Du wirst verlegt. Du beobachtest ab morgen ein anderes Labyrinth", sagte sie und sah mich dabei von der Seite an, während ich weiterhin auf den Bildschirm starrte, auf dem gerade der Frischling mit der Box hochkam.
Über meinem Kopf hatte ich auf einem weiteren Bildschirm ihre Akte geöffnet. Dort stand, dass sie versucht hatte, zu entkommen, mit zwei weiteren Probanden. Gerade hatte ich mich gefragt, wie jemand so naiv sein konnte, zu glauben, WICKED jemals entkommen zu können, als die Frau weitersprach.
"Das Labyrinth der Jungen, mit denen du hier angekommen bist. Erinnerst du dich noch an Proband A17?"
Ich spürte, wie mein Kopf bei dieser Bezeichnung herumschnellte. Mit großen Augen blickte ich sie an. Alles, was ich denken konnte, war ein Name. Ein Name, den ich zu vergessen versucht hatte, den ich mir nicht erlaubt hatte, zu denken, in der gesamten Zeit, die vergangen war, seit man mich hergebracht hatte. Mein Herz machte einen Satz und zog sich dann bei der schmerzlichen Erinnerung zusammen, die in mir hochkam.
"George", hauchte ich.

Behind The WICKED Truth | A Maze Runner NovellaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt