2. Ausnahmezustand

49 6 4
                                    

Ich war vier Jahre alt, als mein Leben sich von dem eines normalen Vorstadtmädchens, zu Hause in einem großen Einfamilienhaus in einer Nebenstraße, zu dem eines ums Überleben kämpfenden Kindes, das schnell vergessen sollte, was es heißt einfach nur zu spielen, veränderte.
Es war an einem heißen Augustmorgen. Die Sonne, die nur vor Monaten noch täglich für Nachrichten über schlimme Brände, unzählige Tote und von plötzlich entstandenen Wüsten verschluckte Städte gesorgt hatte, brannte in unserem Vorort von Thunderbay, nahe des riesigen Sees, zwar viel stärker, als es vor den Eruptionen wohl der Fall gewesen war - an diese Zeit erinnerte ich mich natürlich nicht -, aber mein Bruder und ich konnten trotzdem gefahrlos in unseren Garten spielen, der Blick auf die Bucht hatte.
Gerade, als ich Noah über den Rasen jagte, hörten wir die Stimme unserer Mutter, die aufgeregt nach uns rief. Ich wollte nicht rein gehen, wusste, dass es noch viel zu früh für das Mittagessen war, aber als ich mich zu dem Jungen hinter mir umdrehte, erkannte ich Sorge in seinem Blick. Scheinbar fand er, dass unsere Mutter so klang, als würde etwas nicht stimmen.
Also nahm ich seine Hand und gemeinsam liefen wir auf die Veranda zu und die drei Treppenstufen nach oben. Noah öffnete die Tür für uns und wir traten in die helle Küche, aus der wir eben noch gerufen worden waren.
Suchend blickten wir uns nach unseren Eltern um, als mir das Geräusch des Fernsehers auffiel, das sonst nur zu bestimmten Zeiten und auch nur am Abend zu hören war. Ich zog meinen Bruder an der Hand also in Richtung Wohnzimmer und wir schlüpften hinein, nur um unsere Mutter auf dem Sofa und unseren Vater dahinter zu entdecken, wie er eine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte und sie tätschelte.
"Mum, Dad, ist alles in Ordnung?", fragte Noah vorsichtig und lief mit mir zum Sofa.
"Noah, Franci, da seid ihr ja! Na los, kommt her", bedeutete unser Vater uns, uns neben unsere Mutter zu setzen.
"Ist was passiert?", fragte mein Bruder weiter, aber beide deuteten nur auf den Fernseher, auf dem offensichtlich Nachrichten liefen.
Was war passiert? Hatte die Sonne noch mehr Städte verbrannt? Passierte es jetzt auch weiter nörd- und südlich, vielleicht ganz in unserer Nähe?
"- sind überdurchschnittlich aggressiv und unberechenbar. Die Polizei rät, ihnen nicht zu nahe zu kommen, sondern Abstand zu wahren. Rufen Sie die 911 und versuchen Sie, die infizierte Person nicht auf sich aufmerksam zu machen. Es sind bereits schlimme Gewaltverbrechen verübt worden, während und nach denen die Täter für nicht zurechnungsfähig und höchst gefährlich eingestuft wurden", berichtete die blonde Nachrichtensprecherin.
Bilder von Menschen wurden gezeigt, die merkwürdig zuckend eine Straße entlang liefen. Dann war da einer dieser Menschen, der einen anderen, scheinbar gesunden Mann, angriff und innerhalb weniger Sekunden spritzte Blut durch die Gegend.
Meine Mutter neben mir gab einen erstickten Schluchzer von sich, während ich mit großen Augen auf den Bildschirm starrte.
"Dad, Franci sollte das nicht sehen müssen!", stieß da Noah auf meiner anderen Seite hervor und wollte schon aufstehen und mich wegbringen, als unser Vater ihn aufhielt.
"Doch, Noah. Sie muss sehen, was diese Bastarde getan haben. Sie muss sehen, zu was sie imstande sind."
"Was meinst du damit, Dad?", fragte mein Bruder verwirrt, während ich weiterhin die schrecklichen Bilder auf dem Fernseher anstarrte, die mein so junges Gehirn noch nicht gänzlich zu greifen vermochte, von denen ich aber den Blick einfach nicht nehmen konnte.
Da tauchte ein anderes Bild auf dem Fernseher auf, scheinbar das Logo einer Firma. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie mein Vater darauf deutete.
"Sie", zischte er, als die Nachrichtensprecherin nun weiterredete.
"Ein Sprecher des Katastrophenschutzes, des "World In Catastrophe Killzone Experiment Department", kurz "WICKED" genannt, ein Zusammenschluss aus allen noch stehenden Regierungen und Vorreiter im Kampf gegen die Ausmaße der Sonneneruption, sagte, sie haben bereits erste Erkenntnisse zur Herstellung eines Heilmittels gesammelt und schon heute begonnen, auf Grundlage dessen zu forschen, um in Bälde in der Lage zu sein, die 'Cranks', wie sie einige Zivilisten zu nennen begonnen haben, zu heilen. Bis dahin wurde bereits in allen Staaten der USA der Ausnahmezustand ausgerufen. Kanada zieht nach."
Menschen, Männer und Frauen, in Arztkitteln wurden gezeigt, die in Laboren mit Flüssigkeiten hantierten, sich Notizen auf Klemmbrettern machten und scheinbar einen der 'Cranks' beobachteten und Experimente an ihm durchführten. In Berührung mit dem kranken Mann trugen sie alle Schutzanzüge, die sie wie Astronauten aussehen ließen, fand ich.
"Was meinst du mit 'sie', Dad?", fragte Noah da weiter.
"Diese Menschen, diese Organisation, die sich darstellen will wie die Retter in der Not, sie sind das gewesen. Seht euch ihren Namen an, 'WICKED', der sagt doch bereits alles aus. Ich glaube ihnen nicht, dass sie helfen wollen. Ich glaube, sie sind für das alles erst verantwortlich! Seit Wochen haben sie in den Nachrichten gebracht, dass diese Menschen vom Katastrophenschutz nach einer Lösung suchen, wie sie die Ressourcenknappheit und die damit verbundenen Hungersnöte überall dort, wo die Sonneneruptionen uns am schlimmsten getroffen haben, bekämpfen wollen, haben es eine Überbevölkerung genannt, was das Verhältnis zwischen Rohstoffen und Bevölkerung angeht, und - was? - plötzlich gibt es ein Virus, das dafür sorgt, dass die Menschen sich gegenseitig angreifen und umbringen? Und sie stellen sich da, als wären sie die Heilländer, die uns alle retten werden? Das ist doch alles Bullshit!"
"Schatz, bitte rede nicht so vor den Kindern!", flüsterte unsere Mutter.
"Und was, wenn er recht hat?", hörte ich Noah fragen, aber ich hörte ihm gar nicht mehr richtig zu.
Vor dem Fenster neben dem Fernseher hatte sich etwas bewegt und so sprang ich auf und lief darauf zu, neugierig, wer da in unserem Garten war. Während meine Familie hinter mir immer noch diskutierte, mein neunjähriger Bruder und mein Vater gegen meine Mutter, entdeckte ich jetzt einen Mann in unserem Garten, der sich hinkend fortbewegte. Bei jedem Schritt zuckte er einmal merkwürdig mit dem Kopf und erinnerte mich dabei an die Menschen, die ich eben noch in den Nachrichten gesehen hatte.
Ohne nachzudenken - ich war immerhin erst vier Jahre alt - lief ich zu der Verandatür, öffnete sie und trat zur Treppe.
"Entschuldigen Sie!", rief ich und meine Kinderstimme hallte durch den Garten bis herunter zum See. "Das ist unser Garten! Sie müssen woanders hingehen!"
Von meinen Eltern hatte ich gelernt, stets höflich zu anderen Menschen zu sein, vor allem jetzt, wo viele ihre Familie in den südlicheren Staaten verloren hatten. Der Kopf des Mannes schnellte herum und er gab ein Gurgeln von sich, als er jetzt auf mich zusteuerte.
"Nein, hey, Sie da! Das ist unser Haus, bitte gehen Sie zu Ihrem eigenen!", versuchte ich es noch einmal.
Ich erinnerte mich an das, was ich eben noch im Fernsehen gesehen hatte. Aber diese Menschen waren nicht hier gewesen, nicht in Kanada und schon gar nicht in Ontario. Dort, wo die Aufnahmen gemacht worden waren, war es nicht so grün gewesen. Ich hatte gelernt, dass es sich bei den verbrannten Orten um südliche Staaten der USA oder gar Mexiko handelte. Dieser Mann konnte also gar nicht krank sein, so wie die Menschen im Fernsehen.
Der Mann kam weiter zuckend, gurgelnd und hinkend auf mich zu und ich machte ein paar Schritte rückwärts. Da erkannte ich, dass er etwas murmelte, immer lauter, beinahe unverständlich.
"Hilfe!", stieß er immer wieder hervor.
"Hilfe? Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?", fragte ich und meine Stimme klang piepsig.
Jetzt hatte er mich beinahe erreicht und ich stolperte beim Rückwärtsgehen und fiel auf den Hintern. Er packte mich am Fuß und zog an mir, seine Augen blutunterlaufen und glasig, während aus seinem Mund ein dünner Rinnsal aus dunklem Blut kam. Ich versuchte mich zu wehren, aber hatte keine Chance gegen ihn.
Gerade als er mich beinahe gänzlich zu sich herangezogen hatte um was auch immer mit mir zu machen und ich wie am Spieß schrie, hörte ich, wie die Tür hinter mir aufgerissen wurde und im nächsten Augenblick ein Schuss ertönte. Der Mann vor mir sackte sofort in sich zusammen, als die Kugel seine Stirn durchbohrte, sein Griff um meinen Knöchel wurde sofort schlaff.
Mit Entsetzen wirbelte ich herum und blickte in den Lauf des Gewehres, mit dem mein Vater gerade diesen fremden Mann direkt vor meinen Augen erschossen hatte.

Behind The WICKED Truth | A Maze Runner NovellaWhere stories live. Discover now