Auf dem Weg nach Westen - Kapitel 27

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„Wer von euch ist Häuptling Ohne Fleisch?", rief García in die aufgeregte Menge. Anscheinend glaubte er, dass er nur laut genug fragen musste, damit die Leute ihn verstanden.

Rabe übersetzte und ein kleiner, aber sehr dicker Mann mit einer langen weißen Robe trat vor.

Manzanilla fiel vor Lachen fast vom Pferd. „Ohne Fleisch!", brüllte er und zeigte mit dem Finger auf den dicken Häuptling. Der nahm das Lachen nicht krumm und erklärte seinen Besuchern mit schnellen Händen seinen Namen.

„Immer wenn es Fleisch gibt, putze ich die Knochen ganz sauber und lasse sie vollkommen ohne Fleisch den Hunden."

„Wirst du uns Vorräte geben und uns zu dem großen Fluss führen?", fragte García.

„Ihr könnt so viele Vorräte bekommen, wie ihr tragen könnt und Kleiner Bruder wird euch führen."

„Wie viele Tage werden wir brauchen, bis wir den Fluss erreichen."

Ohne Fleisch überlegte und öffnete zweimal kurz hintereinander beide Hände. Dann überlegte er es sich anders und öffnete noch einmal beide Hände.

„Zwanzig bis dreißig Tage!" Juan Galeras schaute in die Runde. „Ich würde eher sagen, er weiß nicht, wie lange wir brauchen." 

Manzanilla stieg vom Pferd und nahm einen Korb voller Maisfladen in Empfang. „Gibt es hier kein Fleisch, Häuptling Ohne Fleisch?" Er lachte über seinen eigenen Witz und Rabe übersetzte seine Frage.

„Ihr sollt alles bekommen, was ihr für die Reise benötigt." 

„Endlich mal ein freigiebiger Häuptling." Melgrossa folgte einigen Frauen in eine Hütte und kam mit einem großen Korb Trockenfleisch zurück. Das würde für die nächsten Tage ausreichen.

*

Seit einigen Tagen lief Kleiner Bruder voraus und zeigte ihnen den Weg über eine sehr steinige Ebene. Waren sie sonst von Büschen, Dornensträuchern und stacheligen Trockenpalmen umgeben, gab es auf dieser Ebene gar keine Pflanzen. Die Hitze des Tages war am Abend dahin und es wurde immer kälter.

Zum Glück lagen hier dicke Baumstämme für ein Feuer herum und Juan Galeras holte seine Streitaxt heraus. Das Holz wirkte sehr alt und zeigte deutliche Witterungsspuren, aber irgendetwas irritierte ihn. Als er mit der Hand über den Stamm strich, wurde ihm klar, dass dieser Baumstamm ein einziger riesiger Stein war. Mit der Axt stieß er leicht dagegen und hörte am Klang, dass er sich nicht geirrt hatte.

„Was ist das für ein Teufelsspuk?" 

Ein Versuch beim nächsten Baumstamm brachte das gleiche Ergebnis.

„Ist deine Axt stumpf geworden?", fragte Melgrossa vom Pferd herab.

„Du kannst ja mal versuchen, diesen Stamm zu spalten!" Juan Galeras hielt ihm seine Axt hin und grinste. Melgrossa stieg ab und berührte, genau wie zuvor Galeras, den Baum mit der Hand.

„Das ist eindeutig Teufelswerk! Es gibt keine andere Erklärung!" Melgrossa drehte sich zu Kleiner Bruder um. „An was für einen teuflischen Ort hast du uns geführt? Willst du, dass der Teufel uns alle zu Stein werden lässt?" 

Rabe übersetzte die Frage sinngemäß und sofort stand Kleiner Bruder die Angst im Gesicht geschrieben. Er gab zu verstehen, dass hier keine Gefahr drohe und zum Beweis legte er sich sofort unter seine Decke und tat als würde er schlafen. Am nächsten Morgen war er doch ein wenig erleichtert, dass keiner der Männer zu Stein geworden war. Er erzählte den Teyas die uralte Sage seines Volkes nur mit seinen Händen.

„Vor langer Zeit gab es hier ein Mädchen. Sie war nicht wie die anderen Kinder und half ihrer Mutter nicht bei der Arbeit. Ständig war sie draußen in der Natur bei den Pflanzen und Tieren. Nur dort war sie glücklich und so bald sie abends ins Dorf zurückkehrte, wurde sie schwermütig. Eines Tages sagte ihre Großmutter zu ihr, dass sie sich einen Mann suchen sollte. Aber das Mädchen wollte nicht heiraten. Die Großmutter machte ihr klar, wie wichtig es für den Stamm war, dass sie Kinder bekam und dass der Stamm aussterben würde, wenn sich alle Mädchen entschließen würden, nicht zu heiraten.

Zuerst wollte das Mädchen nichts davon hören, aber die Großmutter redete so lange auf sie ein, bis sie sich einen Mann nahm. Aber sie war mit dem Krieger nicht glücklich. Sie hasste es, auf dem Feld zu arbeiten und die Felle der erlegten Beute ihres Mannes zu säubern und Leder daraus zu machen.

Jede Arbeit im Dorf war ihr zuwider und so ging sie eines Tages in die Natur und kehrte nicht zurück. Die Großmutter suchte sie und fand sie an diesem Ort. Sie war bis zur Hüfte zu Stein geworden und konnte ihre Beine nicht mehr bewegen. Schnell lief die Großmutter ins Dorf und holte den Eulenmann. Der beschwor das Mädchen doch wieder in das Dorf zurückzukommen.

Aber sie sagte ihm, dass es bereits zu spät sei und dass sie hier glücklich wäre. Sie wollte lieber ganz zu Stein werden und jeden Tag in der Natur sein, als auch nur einen einzigen Tag länger im Dorf zu leben.

Der Eulenmann erkannte, dass es ihr Wille war und sah zu, wie sie langsam ganz zu Stein wurde. Als das Mädchen nicht mehr lebte, ging er zurück in sein Dorf und trauerte mit den Menschen. Doch der Zauber war noch nicht gebrochen! Ganz langsam wurde alles in der Umgebung des Mädchens zu Stein.

Jeder Grashalm, jeder Strauch und jeder Baum und wenn sich ein Vogel auf einen steinernen Ast setzte, wurde auch er zu Stein. Die Menschen sahen es und bekamen große Angst. Sie wollten fliehen, aber der Eulenmann sagte ihnen, dass sie nicht fliehen könnten. Wenn sie alle wegliefen, würde die ganze Welt irgendwann zu Stein werden.

Er bat die jungen Männer, die heilige Trommel zu schlagen, denn er wollte so lange tanzen und die Geister beschwören, bis der Zauber gebrochen war. So tanzte er einen ganzen Mond ohne Schlaf und ohne Essen. Die jungen Männer wechselten sich Tag für Tag ab, aber der Eulenmann tanzte ohne Unterlass. Als er tot zusammen brach, waren die Menschen verzweifelt. Doch in diesem Moment war der Zauber gebrochen. Das Mädchen zerfiel zu Staub und die versteinerten Bäume zerbrachen. Sie liegen noch immer an der gleichen Stelle, wie ihr sehen könnt."

Rabe und Stab waren tief beeindruckt. Sie kannten viele Geschichten, aber eine wie diese hatten sie noch nie gehört. Hier schienen sich Legende und Wahrheit zu vermischen.

Wie der Große Geist den Indianern das Pferd schenkteWhere stories live. Discover now