Der zerschlagener Bogen - Kapitel 1

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Gut versteckt vor ihren Feinden saß eine Zikade im hohen Gras und sang ihr Lied. In der Ferne heulte ein Kojote und ein anderer antwortete ihm. Die Nacht war noch nicht vorbei, aber der Weitfliegende Rabe lag verschwitzt auf seinem Fell und war hellwach. Er wusste, dass er nicht erneut einschlafen konnte, denn das konnte er nie, wenn dieser ganz besondere Traum ihn wieder einmal besuchte.

Dieser Traum begleitete ihn seit seiner Kindheit und ihm verdankte er seinen Namen. Wie immer war er im Traum über das Grasland geflogen und dieses Gefühl wirkte noch eine Weile in ihm nach. Jedes Mal unterschied sich der Traum ein klein wenig vom Mal davor, aber im Grunde war es immer das Gleiche.

Jedes Mal kletterte er einem sehr großen Raben mit glänzendem Gefieder auf den Rücken und flog mit ihm durch die Luft. Unter sich sah er das Grasland und Menschen. Wenn er über die Köpfe der Menschen hinweg flog, versetzte er sie jedes Mal in Angst und Schrecken. Er hatte keine Ahnung, warum sie ihn fürchteten, aber er spürte den Wind in seinem Gesicht, flog über das Land und war frei.

Das Fliegen war so vollkommen anders als alles andere, was er jemals erlebt hatte. Dieses Gefühl war unvergleichlich, so aufregend und so schön, dass ihm die Furcht der Menschen vollkommen unwichtig erschien.

Doch wenn er sich dann mitten im Flug selbst in den Raben verwandelte, und den Wind unter seinen Flügeln spürte, dann hämmerte sein Herz jedes Mal als wolle es aus seiner Brust herausspringen. Jedes Mal wachte er Schweiß gebadet auf und versuchte sich das Gefühl des Fluges noch für eine Weile zu bewahren und sich daran zu erinnern. Jedes Mal fragte er sich, was dieser Traum wohl bedeuten mochte.

Was wollte er ihm sagen? Menschen konnten nicht fliegen, das hatte er mehrfach probiert. Er war so schnell gerannt wie er nur konnte und hatte die Arme ausgebreitet, aber er konnte sich nicht in die Lüfte schwingen. Also, was wollte der Traum ihm sagen? Sollte er sich einen Raben fangen? Doch was sollte er mit dem Vogel anfangen? So ein Rabe konnte nicht sprechen. Er konnte ihm ganz sicher nicht sagen, was dieser Traum bedeutete. Seit seiner Kindheit stand er vor diesem Rätsel.

Wie so oft hatte er draußen im Freien geschlafen, weil es ihm drinnen zu heiß und zu stickig war. Das Schnarchen von Großvater Büffelkopf war auch hier draußen, durch die dünne Wand der kleinen Rundhütte deutlich zu hören.

Auf engstem Raum lagen da drinnen seine Mutter Roter Mond, Großvater Büffelkopf und seine vier jüngeren Geschwister. Eine Weile schaute Rabe in den Himmel und beobachtete die Sterne. Dann drehte er sich auf die Seite und schaute nach Osten. Dort wurde es langsam hell, aber bis zum Sonnenaufgang war noch viel Zeit. Außer ihm war niemand im Dorf wach und sogar die Hunde schliefen. Leise erhob er sich, nahm seine Waffen auf und rollte sein Fell zusammen.

Auf leisen Sohlen schlich er zwischen den anderen Rundhütten durch das Dorf der Teyas und blieb vor zwei auf dem Boden schlafenden Gestalten stehen. Sein Freund Stab teilte sich ein Fell mit der dicken Meise.

Eigentlich hieß er Stummer Stab, weil er nicht sprechen konnte. Aber alle Leute im Dorf der Stachelschweine nannten ihn nur Stab. Als sie noch kleine Kinder waren, hatte er einen schwarzen Skorpion gefunden und ihn sich in den Mund gesteckt. Der Skorpion stach ihm in den Hals und sein Gift zerstörte ihm die Stimmbänder. Stab wäre beinahe gestorben. Seit dem konnte er zwar noch immer so gut hören wie ein Luchs, aber nicht mehr sprechen und aus diesem Grund wurde er Stummer Stab genannt.

Für kurze Zeit war er damals sehr in sich gekehrt und saß abseits der anderen Kinder. Doch Rabe holte ihn zurück in die Gemeinschaft der anderen. Gemeinsam entdeckten sie die uralte Zeichensprache und schon nach wenigen Tagen war es wieder wie zuvor. Rabe merkte oft gar nicht, dass sein Freund mit den Händen sprach.

Auch im Dorf gab es kaum einen Unterschied für Stab. Alle Menschen im Dorf beherrschten die Zeichensprache. Das war auch nötig, weil es im Grasland so viele Völker und Sprachen gab. Manch einer beherrschte sie sehr gut, andere nur unvollständig. Doch alle konnten einfache Zeichen verstehen. Manchmal war die Zeichensprache dem gesprochenen Wort sogar überlegen. Auf weite Entfernungen musste man nicht laut schreien, um sich zu verständigen. In der Dunkelheit hatte sie jedoch den Nachteil, dass man die Handzeichen nur sehr schlecht sah.

Wie der Große Geist den Indianern das Pferd schenkteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt