Oftmals trug er Kontaktlinsen, um diese zu verstecken, doch heute würde er darauf verzichten. Auch auf den Kajal würde er verzichten, ihm war einfach nicht danach. Er atmete auf und ging zu dem großen Spiegel für einen letzten Check. Mit seinen 1,75 m war er nicht klein, doch sein schlanker Körperbau ließ ihn neben seinen Ohren oftmals schwach und zierlich erscheinen.

Pah, ihr Klötze könnt mir nicht das Wasser reichen. Er nahm seine zwei Karambit-Messer und verstaute sie in einer unsichtbaren Schlaufe an seinen Schenkeln, woraufhin diese ebenfalls unsichtbar wurden. Ein Vorteil, ein Runendämon zu sein war es, kleinere Gegenstände an seinem Körper verstecken zu können.

Nun fragen sich viele: warum der Aufriss, sich herauszuputzen? Ganz einfach. Wenn er sterben sollte, dann mit Stil. Er hatte immerhin einen Ruf zu verlieren. Viele reicherten Schätze und Reichtümer an, doch er sah sich als sein persönliches Kunstwerk an, weshalb er lieber in sich selbst investierte als in andere Dinge, die einfach nur herumlagen und verstaubten.

Ein Seufzer glitt über seine Lippen. Es bringt nichts, es hinauszuzögern. Also nahm er den Zettel vom Tisch und verließ das Zimmer. Er ging zu Killuan – seinem Butler/engstem Vertrauten. Er war ein Ziegendämon, dessen Dorf er vor Jahrhunderten vor einem Überfall gerettet hatte. Er hatte ihm damals die Treue geschworen und war ihm nicht mehr von der Seite gewichen.

„Ich wurde von Nix gerufen und werde seinem Ruf folgen. Ich weiß nicht, wie lange ich fort sein werde. In der Zwischenzeit werde ich darauf vertrauen, dass du meine Angelegenheiten regelst." Nicht, dass es so viele waren. Killuan nickte.

„Mein Herr, darf ich fragen, was der Grund Eurer Reise ist?", fragte der Ziegendämon mit einer respektvollen Geste.

„Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Doch in der jetzigen Lage denke ich nicht, dass es etwas Positives ist."

Lyric schwieg kurz, dann fuhr er mit ernster Stimme fort: „Killuan. Sollte ich mein Ende finden, übertrage ich dir all meinen Besitz. Dann kannst du dich entscheiden, ob du hierbleiben willst, oder zurück in die Hölle möchtest."

Killuan machte ein besorgtes Gesicht.

„Mein Herr, ich werde hier auf Eure Rückkehr warten."

Lyric musste lächeln. Wenn es um dieses Thema ging, würde der Ziegendämon nicht einlenken.

„Jeder findet sein Ende und ich habe das Gefühl, dass das meine nah ist."

Ein trauriger Ausdruck zog sich über Killuans Gesicht.

„Kill, ich danke dir für all die Jahre, die du an meiner Seite warst." Weiter konnte Lyric nicht reden. Werde ich etwa sentimental? Hölle, die Welt steht wirklich kurz vor ihrem Ende. Lyric straffte die Schultern und ging, nachdem er seinem Freund auf die Schulter geklopft hatte, in Richtung seines Balkons.

„Mein Herr, Lyric, ich warte hier auf Eure Rückkehr, so wie all die Jahre davor, die wir schon Seite an Seite stehen", sagte sein Freund.

Mit einem Lächeln antwortete Lyric:„Verstehe, bis dann!" Dann aktivierte er den magischen Zirkel und ein Portal erschien. Ein letzter Blick zurück, dann durchschritt er es mit einem mulmigen Gefühl in der Brust.

Als er aus dem Portal trat, erwarteten ihn kahle Steinwände mit bunten Leuchtsteinen darin. Er schaute sich um und war verwirrt. Wo zur Hölle bin ich? Er war in einem Art Warteraum, in dem verschiedene Sitzgelegenheiten an der Wand standen und das war's auch schon. Es hatte das „Arzt-Warte-Raum-Feeling". Es gab nur eine Tür, die in und aus diesem Raum führte.

Was sollte er nun tun? Sollte er hier warten? Sie werden sicherlich seine Ankunft bemerkt haben. Oder? Völlig verwirrt setzte er sich erst einmal. Das lief alles anders als erwartet. Nach etwa zehn Minuten öffnete sich die Tür und ein großer Dämon mit braunen Haaren, perlmuttfarbenen Augen und einer Narbe über dem linken Auge betrat den Raum.

Lyric vermutete, dass dies der weitbekannte Wachhund von Nix war, denn dieser schaute ihn an, wie ein Opferlamm auf dem Schlachthof. Lyric schluckte und hielt seinem prüfenden Blick stand.

„Folge mir, er erwartet dich bereits."

Lyric runzelte die Stirn. Mehr nicht? Danke fürs Gespräch. Wortlos folgte er dem Dämon durch einen langen Gang, der in Stein gehauen aussah. Wo zur Hölle bin ich? Bin ich etwa in einer Höhle? Misstrauisch beäugte er seine Umgebung, während er diese entlang ging. Dann erreichten sie eine hohe Eisentür, die sehr massiv aussah.

„Warte hier", befahl der Wachhund und betrat den Raum.

Die Tür fiel zu und Lyric stand vor der Tür wie bestellt und nicht abgeholt. Netter Zeitgenosse, warum bin ich nochmal hier? Ach ja, ich hab's vergessen. Ich glaub ich geh' einfach wieder. Lyric überlegte sich ernsthaft, einfach zu gehen. Es wird schon nicht das Schicksal der Welt von ihm abhängen...

Die Tür öffnete sich erneut und diesmal bedeutete der Dämon ihm hineinzugehen. Lyric atmete durch und betrat den Raum. Wahnsinn. Der Raum war wie eine riesige Halbkugel. Die Wände waren glattes Gestein mit bunten Leuchtsteinen und hunderten Bildern, die in die Wand gemeißelt war. Der Raum war riesig. Er erkannte gefühlt jede Dämonenrasse, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte, an den Wänden wieder.

Wow. In der Mitte stand eine Art Podest aus weißem Marmor mit drei Stufen. Darauf war ein Thron aus schwarzem Marmor. Rote Saphire waren in den Seiten eingelassen und funkelten in dem Licht der Leuchtsteine. Auf diesem Thron saß er – alabasterfarbene Haut, rubinrote Augen, schwarzes Haar mit einem grünen Schimmer und einem ausladenden Lächeln auf den rosa Lippen. Zusammengefasst – das schönste Wesen, das Lyric jemals zu Gesicht bekommen hatte.

Er war Nix schon einmal begegnet und doch verschlug es ihm erneut den Atem.

„Hallo, mein kleiner Vogel", begrüßte ihn eine melodische Stimme. Dann nickte er dem Wachhund zu, der daraufhin den Raum verließ. Nun waren sie alleine. Obwohl der Raum riesig war, hatte Lyric das Gefühl, gefangen, eingeengt zu sein.

Nix schaute in den Raum und fragte: „Wie findest du die Ausstattung? Trifft sie deinen Geschmack?"

Was? Damit hatte ihn Nix auf dem völlig falschen Fuß erwischt. Er hat mich nicht wirklich gerade gefragt, wie ich die Ausstattung finde, oder?

„Etwas karg und ohne Leben. Ein paar Pflanzen würden bestimmt nicht schaden. Ich kann ja mal meinen Innenausstatter kontaktieren", antwortete er sarkastisch.

Nix entfloh ein leises Lachen, das Lyrics Herz einen Satz machen ließ.

„Nix, lass die Spielchen. Warum hast du mich hergerufen?"

Lyrics Art war eine sehr erfrischende Abwechslung, vor allem da er nicht die geringste Angst vor ihm zu haben schien. Er genoss es, den Dämon etwas zu ärgern. Man muss ja auch die kleinen Dinge genießen.

„Ich habe dich wegen des Hinweises auf den zweiten Schlüssel hergerufen."

Lyrics Körper spannte sich an. Warum ich? Was hat das mit mir zu tun?

„Lass es mich anders formulieren. Lyric, du bist der Einzige, der diesen Hinweis entschlüsseln kann."

Erwartung machte sich in Lyrics breit. Was kommt als Nächstes? Dann erklang Nix' zauberhafte Stimme und erfüllte den Raum. Die Töne hallten von den Wänden wider, sodass Lyric von der Melodie umschlossen wurde.

Fliege hoch mein kleiner Vogel,
Fliege hoch, soweit es geht,
Doch gibt acht mein kleiner Vogel,
Sinke, wenn der Wind sich dreht.

Gemächlich fliegt er durch das Fenster,
Eine Puppe sieht er dort,
Bleiche Haut so wie Gespenster,
Schaut sie stumm so weit hinfort.

Neben ihr ein kleiner Spiegel,
Streck die Hand zum gold'nen Ring,
Fühle über dessen Siegel,
Öffne deinen Mund und sing'

__________________________

Das erste Aufeinandertreffen der beiden.

Wie findet ihr Lyrics Ausstattung? Manche Dämonen *hust Belial hust* halten sie ja für eine Geschmacksverirrung.

Was könnte Nix damit meinen, dass nur Lyric den Hinweis entschlüsseln kann?

Eure Mausegöttin

Nix - ein schicksalhafter Kuss (BAND 3) ✅Where stories live. Discover now