a c h t z e h n

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Sein eigentliches Ziel - den Schlafsaal im Gryffindor-Turm - sollte Harry jedoch nicht all zu bald erreichen. Als er an der aus mysteriösen Gründen nur angelehnten Holztür zur Bibliothek vorbeikam, war das Erste, das er hier wahrnahm, das schwache Licht, welches durch den offenen Türspalt fiel. Wahrscheinlich jemand, der im Dunkel der Nacht in die verbotene Abteilung einbrechen will, dachte Harry zu Anfang. Ein Pärchen, das sich ungestört treffen will. Oder aber ein ausgesprochen ehrgeiziger Schüler, der um diese späte Uhrzeit in den Ferien noch lernte. Doch nur einen Bruchteil einer Sekunde später hörte der Gryffindor ein ihm vertrautes Schluchzen.

Was machte er denn hier? Für einen Moment dachte Harry daran, einfach seinen ursprünglichen Weg fortzusetzen, allerdings überwog schon wieder seine Sorge, weshalb er vorsichtig und möglichst leise die Tür aufzog.

Der Jemand, der bereits hier saß, nahm bloß das Quietschen von Holz hinter sich wahr, bevor er sich ertappt umdrehte. Potter. Konnte er nicht ein einziges Mal alleine und in Ruhe heulen, ohne dass Potter auftauchen musste?

„Wirklich, jetzt kann man nicht mal mehr hier in Ruhe gelassen werden", krächzte der Slytherin mit brüchiger Stimme und wischte sich mit dem Ärmel hektisch die Tränen aus dem blassen Gesicht. Während er das sagte, zog sich etwas in seinem Innersten zusammen. Die letzten Tage - seit der Nacht, in der Draco eindeutig zu viel getrunken hatte und an die er sich bloß ungern und in Verbindung mit Scham erinnerte - waren äußerst angenehm zwischen ihm und Potter verlaufen. Sie hatten aufgehört, sich zu bekriegen und es kam beiden fast so vor, als würden sie eine Spur Verständnis für den jeweils anderen entwickelt haben. Und jetzt dieser Brief, der alles wieder zunichte machen sollte.

„Es ist Weihnachten. Keine passende Zeit zum Weinen." Harry zog eine Augenbraue in die Höhe und musterte den platinblonden Jungen vor ihm genau. Irgendwas musste passiert sein, denn der Schock stand diesem noch immer ins Gesicht geschrieben. Harrys Blick wanderte weiter und blieb an einem Stück Pergament auf dem Tisch neben Draco hängen. „Was ist los?"

Vor einem Jahr noch hätte Harry diese Frage nie und nimmer mit einer derartigen Ernsthaftigkeit an Draco Malfoy gestellt, doch irgendwas zwischen ihnen hatte sich geändert. Und so hatte Harry längst aufgegeben, sich einzureden, dass Draco ihm völlig egal wäre.

„Geht dich nichts an." In Panik und Sorge, dass der Braunhaarige näher kommen könnte, griff Draco in rekordverdächtiger Geschwindigkeit nach dem Brief neben ihm, zerknüllte ihn und stopfte ihn in die Innentasche seines Umhangs.

„Ich will dir nur helfen. Ich seh' doch, dass was nicht stimmt." Trotzig setzte Harry sich gegenüber von Draco.

In dessen Kopf ratterte es derweil gehörig. Er könnte jetzt mit einem abweisenden Kommentar abhauen und sich in aller Ruhe einen Plan überlegen, wie er diesen Sturkopf vor ihm mit einem Vorwand zu seinem Wohnort locken sollte. Oder aber er könnte auch...

„Potter," Er atmete schwerfällig aus, zog das zerknitterte Pergament wieder aus seiner Tasche hervor und warf es vor Harry auf den Tisch. Dieser griff so schnell danach, als hätte er Angst, Draco könnte es sich anders überlegen, und überflog die Zeilen.

Wir haben ein Problem."

Der Gryffindor spannte beim Lesen des Briefes kaum merklich den Kiefer an, seine Augen weiteten sich, als er zu der entscheidenden Stelle kam. Rache an dem Jungen, dem er seinen Tod und Machtverlust zu verdanken hat. Deine Aufgabe ist es, Potter auf unser Anwesen zu locken.

Als er den Brief beiseite legte, schloss er für einen Moment die Augen. Er ließ es sich zwar keineswegs anmerken, aber innerlich drehte sich wohl nicht nur sein Magen um. Seine schlimmste Angst hatte sich bewahrheitet. Wieder einmal sollte es für Harry kein ruhiges Schuljahr geben. Nicht einmal nach seinem Tod ließ Voldemort ihn in Ruhe. Wie um Himmels Willen sollte Harry so jemals Frieden finden?

Draco auf der anderen Seite des Tisches trat nervös von einem Bein aufs andere und wartete wie gebannt auf eine Antwort seines Gegenübers.

„Wir sollten Professor McGonagall um Rat fragen. Jetzt sofort. Ich... ich hab, ehrlich gesagt, keine Ahnung, was wir sonst tun können." Harry stand zögerlich auf, der Slytherin folgte ihm wortlos. Er war sich nicht ganz sicher, ob es klug war, was er da tat.

Gesagt, getan. Knapp zehn Minuten später saßen sie gemeinsam mit einer verschlafenen Professorin in deren Büro und erzählten vom Racheplan der Todesser. Je mehr sie sprachen, desto mehr schwand McGonagalls Müdigkeit. Als die beiden Jungen mit Dracos neuster Aufgabe endeten, starrte sie sie hellwach und absolut fassungslos an. Auch sie war der festen Überzeugung gewesen, dass sich das Problem Voldemort mit dessen Tod erledigt hatte. Dem war jedoch offenbar nicht so.

„Wie kann das sein? Draco, wissen Sie, wer das angezettelt haben könnte?"

„Vermutlich einer aus dem engsten Kreis. Jemand, dem sich der dunkle Lord anvertraut hat. Mein Vater aber kann es nicht gewesen sein. Nicht nach der Anhörung. Er war so froh, nicht erneut nach Askaban zu müssen - da würde er sich nicht freiwillig wieder in Gefahr bringen."

„Ergibt Sinn. Haben Sie beide schon einen Plan?" Sie sah mit größtmöglicher Hoffnung in die Gesichter vor sich. In ihnen konnte sie nicht viel lesen, im schwachen Kerzenlicht lagen sie im Halbschatten.

„Nein, deswegen sind wir zuerst zu Ihnen gekommen", gab Harry zu. In seinem Hirn ratterte es, sie brauchten dringend eine Idee. Zuvor würde er vermutlich nie wieder schlafen können. Dieser Brief musste ja auch ausgerechnet in den Ferien kommen, wo Hermine nicht da war, um ihre Gehirnkapazität mit ihnen zu teilen.

„Sie können nicht nichts tun und aussteigen, Malfoy, richtig?", fragte McGonagall fürs Protokoll, woraufhin Draco reflexartig den Kopf schüttelte. „Positiv betrachtet, ergäbe sich damit aber auch eine Chance. Wenn sich alle Immer-Noch-Todesser versammeln würden..."

„Sie wollen Ihnen eine Falle stellen?" Harrys Interesse war geweckt.

„Aber es muss glaubhaft sein. Die werden mir wohl kaum abkaufen, dass Harry Potter einfach so mitkommt, um zu einem Dankesessen für seinen Einsatz vor'm Gericht oder so zu erscheinen", warf Draco ein, bevor McGonagall mehr sagen konnte, und die Anwesenden nickten einvernehmlich.

„Stimmt. Zum einen würde ich nie allein kommen, zum anderen würden mich deine Eltern niemals einladen..." Harrys Blick schweifte zu seiner Professorin, die nach einer weiteren Minute angestrengten Nachdenkens endlich so aussah, als hätte sie eine Idee.

„Dann macht es offensichtlich. So offensichtlich, dass sie nicht drauf kommen."

„Was?" Ja, Hermine fehlte wirklich. Harry schielte zu Draco hinüber, der aber genauso auf dem Schlauch stand wie er. McGonagall fuhr also fort.

„Erzählen Sie ihnen, dass Sie Potter in das Vorhaben eingeweiht haben. Sie beide würden fliehen und - lassen Sie mich überlegen - bei einem späteren Disapparieren führen Sie Potter nicht zum vereinbarten Ort, sondern in die Fänge der Todesser. Zumindest lassen Sie sie das glauben. Tatsächlich schicken wir zu diesem Zeitpunkt aber Auroren dorthin." McGonagall ließ sich nachdenklich in ihren Stuhl zurück sinken und schwieg für einen Augenblick. „Dieser Plan ist jetzt noch recht unüberlegt, aber er könnte durchaus funktionieren. Lassen Sie mich eine Nacht darüber schlafen und nachdenken. Wir sehen uns morgen."

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Healing - A Drarry Fan FictionWhere stories live. Discover now