s e c h s

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Er war allein. Mehr als das. Er fühlte sich unheimlich einsam auf eine vernichtende Art und Weise. Um ihn herum war alles dunkel. Er konnte nicht einmal die eigene Hand vor Augen sehen. Aber er konnte es riechen. Das Blut. Irgendwo klebte Blut, das wusste er genau. Die erdrückende Stille, die über ihm hing so schwer wie Blei, erlosch, als ein markerschütternder Schrei die Luft wie Messer durchschnitt. Ein eiskalter Schauer lief ihm daraufhin über den Rücken. Es folgte ein weiterer Schrei. Und noch einer. Und noch einer. Er wollte sich die Ohren zuhalten, aber vergebens. Er war nicht in der Lage sich zu bewegen. Als sich die Schreie schließlich in herzzerreißende Schluchzer verwandelten, löste sich allmählich auch die Schwärze um ihn herum auf. Er sah nun eine Meute Schülerinnen und Schüler, allesamt gebeugt über einen leblosen Körper. Dieser Körper besaß einen meterlangen silbernen Bart und war in einen bodenlangen silbernen Umhang gehüllt und so brauchte es nur den Bruchteil einer Sekunde, damit er wusste, wer da lag. Albus Dumbledore. Ein stechender Schmerz durchzog ihn, als ein Junge, der Dumbledores Hand hielt, aufsah und direkt in seine Augen blickte. Hellgrün traf auf durchdringende Art und Weise auf graublau. Auch wenn der Junge meilenweit weg schien, er hörte ihn und spürte seine Trauer bis hier hin. „Es ist deine Schuld! Du hast die Todesser nach Hogwarts gelassen! Du Monster!"

Schwer atmend und mit rasendem Herzen schlug Draco die Augen auf, doch ohne auch nur einen Mucks zu machen. Er kam wieder in seinem Schlafsaal in dem Bett neben dem von Blaise an und hörte Theodore Notts Schnarchen vom anderen Ende des Raums. Nur ein Alptraum.

Er rieb sich mühselig den Schlaf aus den Augen und versuchte Harrys schmerz- und hasserfüllten Blick aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Warum hatte er sich nicht doch etwas von dem gestrigen Zaubertrank mitgenommen? Und was kümmerte ihn überhaupt, was Potter von ihm hielt? Die Gedanken und den Traum abschüttelnd, kroch er aus dem Bett und schlich sich aus dem Zimmer. An erholsamen Schlaf war nun ohnehin nicht mehr zu denken.

Sein Weg führte ihn raus aus den Kerkern, rein in die Nacht. Er verließ das Schloss unerkannt und auf leisen Sohlen und begab sich zum See, wo er sich am Ufer niederließ. Die Ruhe hier draußen war herrlich und der angenehm frische Wind ließ ihn zum ersten Mal seit Ewigkeiten lebendig fühlen. Und so schloss er die müden Augen, lauschte den in der Ferne zirpenden Grillen und vergaß allmählich die Zeit.

Auch Harry wurde wie fast jede Nacht von einem Alptraum geweckt und stellte sich dieselbe Frage wie Draco zuvor. Warum bei Merlins Bart hatte er sich kein Fläschchen des Trankes für traumlose Nächte abgezapft?

Wild hin und her wälzend bekam er kein Auge mehr zu. Die leichenblassen Gestalten aus seinem Traum ließen ihn nicht los und so fühlte es sich für ihn so an, als würde der ohnehin schon kleine Schlafsaal noch enger werden. Als würden ihn die Wände förmlich erdrücken. Beinahe panisch und mit rasendem Herzen sprang er, als er es nicht mehr aushielt, aus seinem Bett, griff sich seine Schuhe und verließ so leise wie möglich den Gryffindor-Turm. Er musste hier raus. Sich die Beine vertreten. Weg von Wänden, die ihn auffraßen.

Harrys nächtlicher Spaziergang zog sich fast zwei Stunden, er irrte noch immer einfach ziellos umher und hoffte, irgendwo seine innere Ruhe zu finden. Doch vergebens. Jede Ecke, jede freie Fläche hier weckte grausame Erinnerungen an jene Nacht. Er musste weiter weg. Und als er schon zitternd vor Kälte am See vor Hogwarts ankam, saß dort bereits jemand. Harry blieb mit gemischten Gefühlen stehen und sah zu dem Jungen mit den platinblonden Haaren, die durch den Wind völlig zerzaust waren, hinüber. Dieser hatte ihn noch nicht bemerkt. Der Gryffindor rang mit sich, sollte er sich zu ihm gesellen? Auf der einen Seite war es nicht seine Aufgabe, sich um jeden zu kümmern, der traurig aussah, aber schließlich überwog seine Sorge und er lief auf direktem Wege auf den See zu. Kaum war er in Hörweite, fuhr der Jemand, der vor ihm hier war, erschrocken herum.

„Hau ab, Potter", war alles, was er rausbekam. Und weil seine Stimme keineswegs überzeugend klang, setzte sich Harry ohne ein Wort zu sagen neben ihn. Draco sträubte sich nicht weiter dagegen. Die beiden Jungen hatten sich so viel zu sagen, doch beide schwiegen sie. Sie hatten sich gegenseitig mehrfach das Leben gerettet und bisher hatte noch keiner von beiden dem anderen dafür gedankt. Trotzdem sagte niemand etwas und doch war die Stille keineswegs unangenehm. Sie saßen einfach nur ruhig nebeneinander. In diesem Moment hätte wohl keiner gedacht, dass dort draußen am See zwei Feinde sitzen sollten.

„Ich weiß, wie du dich fühlst", durchbrach Harry irgendwann den Augenblick des Friedens, woraufhin Draco bloß mit einem verachtenden Schnauben den Kopf schüttelte.

„Du hast doch keine Ahnung. Die ganze Welt liebt dich für das, was du getan hast. Sie feiern Harry Potter, den Helden, der die Dunkelheit vertrieben hat. Mich verabscheuen sie. Ich bin das Monster." Warum er in diesem Moment so offen darüber sprach, was ihm durch den Kopf ging, war ihm selbst nicht ganz klar. Er schob es auf die Uhrzeit, die jegliches rationales Denken verhinderte.

„Vielleicht feiern sie mich, aber das heißt noch lange nicht, dass ich das auch tue. Menschen sind wegen mir ums Leben gekommen, ich fühle mich schuldig." Harry hingegen tat das Reden mehr als gut. Es war wahrlich verrückt. Hermine und Ron und allen anderen, denen er seine Schuldgefühle je offenbart hatte, reagierten meist damit, ihn zwanghaft vom Gegenteil überzeugen zu wollen, und ließen Harry sich dadurch nicht wirklich besser fühlen. Nicht aber Draco.

„Vielleicht sind sie für dich gestorben, aber wenigstens nicht umsonst. Sie haben für was Gutes gekämpft. Ich dagegen habe mich für die falsche Seite entschieden und versagt, als ich das hier zuließ. Seitdem ging es steil bergab." Er deutete fast nebensächlich auf seinen linken Unterarm, sein Blick war noch immer starr auf das Wasser des Sees gerichtet, das im Mondschein magisch glitzerte.

„Hattest du denn eine Wahl?", fragte Harry nun mit einem Seitenblick, den Draco zögerlich erwiderte. Dieser schüttelte nun den Kopf. „Siehst du. Ich hatte eine, ich hätte Voldemort gleich gegenüber treten sollen. Ich war feige und habe stattdessen zugelassen, dass viel zu viele Menschen meinetwegen sterben."

„Du warst doch nicht feige. Merlin, du hast gekämpft, ich wäre wahrscheinlich an deiner Stelle einfach abgehauen. Das wäre feige."

Harry wusste darauf nichts zu erwidern und wandte seinen Blick wieder ab. Doch irgendwie hatte dieses kurze Gespräch sämtliche Spannungen in seinem Körper gelöst und er fing sogar an zu gähnen. Diesmal nicht aus Erschöpfung, sondern aus gesunder Müdigkeit.

Wieder schwiegen die beiden sich an, solange bis die Sonne schon goldgelb am Horizont hervorlugte.

„Wir sollten langsam reingehen, nicht wahr?"

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Healing - A Drarry Fan FictionWhere stories live. Discover now