•chapter*3•

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••••••••••/•• Valerie ••\••••••••••

Die Leuchtstabröhren an den Wänden knisterten als sie eingeschaltet wurden.
Ein Flackern, gefolgt von grellem Licht.

Ich saß schon fertig auf meinem Bett, blickte zwischen den Gitterstäben hindurch auf den Gang und wartete.

Warten.
Es klingt so einfach, so simpel, so leicht.
Sitzen und warten, Nichts tun.

Doch das war es nicht, nicht wenn man schon knapp 10 Jahre wartete.
Zumindest nahm ich an, dass es sich um einen Zeitraum von etwa 10 Jahre handeln musste.

Ich zählte die Nächte und schloss so auf die Tage.
Teilte die Tage durch 365 und kam so auf die Jahre.
Simpel.
Und doch so zeitintensiv.

Ich vergaß keine Nacht, wollte mein Zeitgefühl so gut es ging beibehalten,
um nicht im Trist und der Hoffnungslosigkeit meines Dasein zu verschwinden.

Das war hier das Wichtigste:
Bei Verstand bleiben. Nicht verrückt werden.

Schritte.
Sie kamen näher.

Sie gingen vorbei.

Ich atmete auf. Also hatten sie heute andere Prioritäten.

Meist holten Sie uns Einzeln, seltener in Gruppen.
Sie entschieden, wer Auslauf bekam und wer anderweitig von Nutzen sein könnte.

Sie nahmen jeden Tag eine andere Konstellation von uns Nummerierten mit.
Doch heute?
Sie gingen den Gang entlang, sahen in die Zellen, kontrollierten die Vollzähligkeit,
und gingen wieder.

Sie sagten nichts, doch war aus ihren Blicken mehr zu deuten,
als es vermutlich beabsichtigt war.

Ihre Blicke waren ernst, entschlossen, konzentriert.
In ihren Augen lag kein Hauch von Schalk, kein Spott über unsere Situation.
Sie waren bis aufs äußerste angespannt.

Nicht nur mir schien das Aufzufallen.
Man konnte hören, wie sich Einige zu den Gitterstäben bewegten und wohl versuchten möglichst viel vom Gang einsehen zu können.

Gleichzeitig hörte man weniger Atemgeräusche.
Vor Angst beschleunigte sich der Puls und die Atmung, vorallem die der Jüngeren,
wenn eine Wache den Gang betrat.

Ich blieb sitzen.
Ich wusste, dass ich nicht viel sehen würde, wenn ich mich wie ein gaffender Touri an die Gitterstäbe presste.

Mein Blick wanderte nach Rechts.

Der Neue.

Er Schien nicht viel von besonnener Gleichgültigkeit zu halten.

Ich sah, wie er in seiner Zelle kleine Runden drehte und begann mit neugierigen Blicken die Wände und Einrichtung  zu inspizieren.

Neugierde.
Sehr schlecht.
Das war sehr sehr schlecht.

Die Alten hatten uns immer davor gewarnt.
Sie meinten, Neugierde führte zu Interesse, zu Aufmerksamkeit.

Verhielt er sich neugierig, würden dies auch bald die Wachen bemerken.
Er würde in ihren Fokus geraten.
Er Kloppte grade riesige Löcher in das sinkende Schiff.
Und da ich die Zelle neben seiner bevölkerte, würde ich wohl oder übel mitgerissen werden.

Ich kann nicht jedes Leck abdichten.
Zumindest nicht, wenn er das Schiff noch schneller zum Sinken brachte.

Neugierde erzeugte Probleme,
und wir hatten bei Gott genug davon.

Ich musste hoffen.
Hoffen, dass das nur eine kurze anfängliche Neugierde war, die sich nach kurzer Zeit legen würde.
Hoffen, dass der Mann sich seiner Situation bewusst wurde und sich seiner Umgebung anpasste.
Er mit ihr verschmolz.

Man überlegte hier nicht als buntes Individuum.
Man musste sich anpassen, den Regeln folgen, keine unnötige Konfrontation erzeugen.
Man musste unsichtbar werden.

Das half einem selbst und auch der Gemeinschaft.
Denn Konsequenzen waren meist auf die Gruppe ausgelegt.
Kollektivstrafen waren leichter durchzuführen als Einzelstrafen.

Und Sie schmerzten mehr.
Denn Sie trennten den Schuldigen aus dem Kollektiv,
erzeugten eine Schlucht, die eine Person klar als Schuldigen identifizierte,
schwächten die Gruppenzusammengehörigkeit und erschwerten das Vertrauen.

Die Gruppe erzog sich selbst.
Und wenn es hier nicht physisch möglich war, so konnten man es doch psychisch erreichen.
Auch strafende und enttäuschte Blicke können in solch einem Umfeld,
in solch einer Situation, verheerend sein.
Sie  verstärkten das Gefühl der Einsamkeit, führten zu geistiger Isolation
und erzeugten das Gefühl, nicht gewollt zu sein.

Es gab nur etwas, dass schlimmer war: Missgunst.
Manche Nummerierten wurden und werden zeitweise bevorzugt,
erhielten mehr Auslauf,
mehr und besseres Essen und waren weniger Qualen ausgesetzt als Andere.
Ja, selbst eine geringere Konzentration an Eisenkraut im Essen erzeugte bei Manchen das Gefühl von Neid.

So trieb die Missgunst einst Nummerierte in den Tod.

Doch diese Zeit war vorbei, hoffte ich zumindest.
Allen war inzwischen klar geworden, dass unser aller Situation beschissen war;
dass unser Leben am seidenen Faden hing.

Wir standen zwischen Leben und Tod,
balancierten auf einem seidenen Faden.

Wir waren darauf angewiesen, dass keiner der Gemeinschaft den Faden zum wackeln brachte. Dass niemand die Gemeinschaft in Gefahr brachte.

Wenn man das Gleichgewicht verlor, wenn der Fall droht, sprang man.
Das war die unausgesprochene Verpflichtung, die man hatte.
Wenn man fiel, fiel man allein.
Man hielt sich an niemandem fest, um sich vor dem Fall zu bewahren,
denn dann schwankte der Faden und man riss die Gemeinschaft mit in den Untergang.

Man begriff, dass nur das Kollektiv, die Gemeinschaft, überlegte.
Ab dann, kämpfte man nichtmehr für sich, nichtmehr für sein Weiterkommen,
sondern für die Gemeinschaft.

Jeder Nummerierte steht hinter diesem Leitfaden.
Das eigene Wohl trat in den Hintergrund, wenn es um die Gemeinschaft ging.
Man opferte sich für die Sache, verlor jegliches Gefühl das auch nur einen Hauch Narzissmus beinhaltete.

Die Gemeinschaft musste durchkommen, mit oder ohne einen selbst.

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Valerie.Where stories live. Discover now