1. Kapitel

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Als ich kleiner war, da habe ich noch woanders gelebt. Ich war jung, glücklich, lachte viel und war voller Lebensfreude. Ich gehörte zu den Kindern, die nur für diesen einen Tag lebten und dann am nächsten Tag vergaßen, was sie gestern getan hatten. Es war so, als wäre dieses gestern nicht real, sondern nur ein Traum gewesen und am zweiten Tag war der Tag davor gestern und vorgestern gab es nicht. Ich fragte einmal eine Freundin, wenn man sie so nennen kann, ob sie sich noch genau daran erinnert, wie ihr Zimmer aus sah, als sie drei Jahre alt war. Sie schaute mich an und ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass sie sich fragte ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte, was ist denn das für eine dumme Frage. Fakt ist, die meisten Kinder erinnern sich nicht daran, weil es unwichtig für sie ist. Für mich wäre es auch unwichtig, wenn ich so wäre wie jedes andere Kind, was ich aber nicht bin. Was ich aber definitiv weiß ist, dass ich genau so wäre wie die anderen, wenn nur diese eine bestimmte Sache nicht passiert wäre. Ich erinnere mich weder daran wie groß das Wohnzimmer in der alten Wohnung war, noch erinnere ich mich daran, wie die Küche dort aussah. An was ich mich stattdessen erinnere, und was ich wahrscheinlich auch nie vergessen werde, ist das Zimmer von Ihm. Ich weiß, wo sein Zimmer in dieser Wohnung war und wie es aussah. Ich ging in Gedanken die Treppen hoch, die mich in seine Wohnung führte. Ich musste nicht klingeln, denn die Tür öffnete sich von selbst und da stand er zusammen mit seinem Kind im Arm. Seine Frau stand neben ihm und hielt die Hand von deren Tochter fest. Ich begrüßte die beiden und ging durch den schmalen Flur, der an Bad und Küche vorbei führte und mich ins Wohnzimmer brachte. Ich setzte mich aufs Sofa und wartete bis meine Familie hoch kam und sich im Wohnzimmer versammelte. Ich starrte immer wieder dieses Bild, was da an der Wand hing, an. Das Bild von den gefangenen und toten Schmetterlingen.-Korrigiere, richtig wäre es wenn ich sage: "Das Bild von den gefangenen Schmetterlingen." Denn damals wusste ich noch nicht, dass sie bereits tot waren. Sie waren schön, doch warum werden sie gefangen gehalten? Heute weiß ich, dass ich mir schon damals die Frage selber beantwortet habe. Die Antwort ist, weil sie schön sind. Weil man schöne Sachen besitzen will und wenn man sie nicht einsperrt und ihr die Freiheit schenkt, dann verschwindet sie. Dann verschwinden die Schmetterlinge mit samt ihrer Schönheit. Ich fand das Bild schön und sah sie mir jedes mal an. Ich mochte sie, sie waren so wie ich. Schön und doch GEFANGEN. Ich fragte mich öfters, ob ich sie nicht freilassen könnte. Wenn ich es kann und tat, bin ich dann auch frei? Wären sie dann auch so glücklich wie ich? Ja oder? Denn wir sind doch gleich. Schön und gefangen. Gefangen und Schön. Er sah, dass ich die Schmetterlinge beobachtete und kam auch mich zu und fragte: "Sind sie nicht schön?" Ich bejahte und er fuhr fort. "Ich weiß auch, dass sie schön sind, aber warum schaust du sie dir jedes mal an?" Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken antwortete ich mit: "Weil ich mich frage, was passieren würde wenn man sie daraus holt. Könnte ich sie dann frei im Raum fliegen sehen?" Ich hoffte, dass er ja sagte. Da hatte ich mich aber gewaltig geirrt. Er lachte. Es war kein "Ich lache dich aus" lachen und auch kein nettes. Nein, es war ein höhnisches lachen, ein lachen, dass einen weiß macht, wo man hingehört. Ein lachen, dass sagt das man dumm ist und er einem viel überlegener ist. "Sie sind schön, da hast du recht, aber sie werden nicht fliegen können wenn du oder irgendjemand anderes sie befreit. Sie werden nie wieder bei den anderen am Himmel fliegen können, denn sie sind gefangen und tot." Nachdem er den Satz beendet hatte herrschte eine Stille. Ich kann nicht sagen was für eine Art von Stille es war, aber ich war geschockt. Und dann fing er erneut an zu lachen! Hab ich irgendetwas witziges gesagt, so dass er lachte? Ich schaute ihn an. Ich verstand ihn nicht. Warum lachte er??! Sie waren tot...TOT waren sie!! Was ist daran bitte so lustig? Wie konnten sie mich nur alleine lassen. Sie waren doch das einzige schöne an dieser Wohnung....und an diesem Besuch. Ich war wie sie...dass habe ich mir immer gesagt....heißt das,dass ich jetzt auch tot war? Nein, ich war wie sie und daran gab es auch keinen Zweifel. Wir waren gleich und doch anders. Ich war zu geschockt, sauer und traurig zugleich, wobei hier die Betonung eher auf geschockt liegt, um noch irgendetwas anderes wahrzunehmen. Ich konnte mich nicht mehr erinnern was danach geschah, was vielleicht daran lag, dass der Tag für mich vorbei war....Ja, der Tag war für mich, wortwörtlich, gestorben.

Ich weiß nicht mehr genau wie ich nach Hause kam, aber ich weiß noch genau, dass als ich in meinem Bett lag und gebetet habe. Ich habe darum gebeten, dass ich morgen früh aufwache und das wirklich alles, alles nur ein dummer, dummer Traum war.

Damals gab es für mich kein gestern und ich war auch der Überzeugung, dass es kein gestern gab, sondern alles nur ein Traum gewesen war. Doch als ich am nächsten Tag aufwachte, war etwas anders als sonst. Ich bin nicht mit dem Gefühl aufgewacht, dass es ein Traum war, sondern ich sah alles klar, klar und deutlich vor mir. Ich hörte auch alles. Ich hörte sein höhnisches lachen....

Butterfly// #Wattys2015Where stories live. Discover now