Kapitel 8.1 - Der Tod tritt schmerzlos und unverzüglich ein

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Ich blickte in das Gesicht eines dunkelbraunen Wolfes. Statt Angst oder Panik zu verspüren, war ich erleichtert. Bald hätte meine Trauer, mein Schmerz, mein verdammtes Leben ein Ende. Mein Wunsch ging jeden Moment in Erfüllung, wie Soulin ging ich dem Tod entgegen. Ohne die Augen zu schließen, blickte ich starr geradeaus, sah den Wald, den Regen und doch nichts mit vollem Bewusstsein. Mein Sein hatte sich zu dem Zeitpunkt verabschiedet, als ich Soulins zerbrochenen Körper in den Händen gehalten hatte. Nun konnte mich nichts mehr erschüttern. Mein baldiger, kommender Tod war mehr als Willkommen und ich war mir sicher, schnell und unter den Umständen schmerzfrei zu sterben. Mein Geist war nicht mehr anwesend, ich fühlte mich eher, als würde ich über mir schweben wie ein neutraler Betrachter der Szene.

Irgendwann blinzelte ich, und hatte das unbestimmte Gefühl, als wären einige Minuten vergangen, konnte es aber nicht mit Sicherheit sagen. Jedenfalls brannten meine Augen, vermutlich vom langen Starren. Ansonsten ging es mir körperlich gut, ich lebte noch. Warum lebte ich noch? Irritiert blinzelte ich erneut. Nun sah ich mich nicht mehr einem riesigen Wolf gegenüber, sondern einem jungen, dunkelhaarigen Mann, dessen Gesicht nur zehn Zentimeter von meinem entfernt war. Er bewegte seinen Mund, als redete er mit mir, aber ich wurde nicht schlau daraus. Es war, als triebe ich unter Wasser, ganz so wie es mein Nachname mir bedeutete – Waterrain. Beinahe hätte ich über diesen Zufall oder des grausamen Schicksals meines Nachnamens gelacht.

War das der Schock? Hatte mich Soulins Tod verrückt werden lassen? Erneut konzentrierte ich mich auf den Mann und schaute ihm direkt in die Augen. Eines davon war leuchtend grün wie satte Wiesen im Frühling, das andere schimmerte tiefblau, als würde man auf einen sonnenbeschienenen Ozean blicken. Augenblicklich hasste ich diese Augen. Es waren die Augen eines Werwolfes. Wolfsaugen schimmerten unverkennbar von ihrer Magie, genauso wie unsere ungewöhnlichen Haarfarben uns als Hexen ausgaben. In der Zwischenzeit hatte der Wolfsmann aufgehört zu reden, schien auf etwas zu warten, das ich ihm nicht geben konnte. Stattdessen saß ich stumm da und wartete auf meine Absolution. Ein Moment verging, dann ein weiterer, in denen wir uns einfach nur ansahen und abschätzen. Und plötzlich dämmerte es mir, ich sah es in seinen Augen. Er hatte sich umentschieden. Er wollte mich nicht mehr umbringen. Erst jetzt ergriff mich richtige Panik.

Wir waren ausgebildete Soldatinnen und dazu angehalten, nie kampflos aufzugeben und uns schon gar nicht vom Feind gefangen nehmen zu lassen. Unter keinen Umständen. Ich Idioten hatte beides zugelassen, verdammter Hexenhaufen. Meine Gedanken rasten und fokussierten sich schließlich mit aller Kraft auf meine Brusttasche, die mit einem Reißverschluss geschlossen war. Darin befand sich eines der wichtigsten Dinge, die jede Hexe im Dienst bei sich trug. In meiner Erinnerung stand Sergeant Glosna lebend vor uns, bevor wir in den Helikopter stiegen, und hielt uns die Pillen hin. Ihr Gesicht streng und kontrolliert, während lose Strähnen um ihr Gesicht flatterten.

„Keine Gefangennahmen!", hatte sie gebellt. „Wenn es hart auf hart kommt, nehmt ihr diese Zyanid-Kapsel. Ihr müsst sie nicht lutschen, nicht schlucken, einfach draufbeißen. Der Tod tritt schmerzlos und unverzüglich ein. Verstanden?"

Unisono hatten wir zurückgebrüllt. „Ja, Sir, ja."

Beinahe hätte ich es vergessen, doch nun war ich wieder fokussiert, gedrillt wie eine gut geölte Maschine. Ohne mit der Wimper zu zucken oder meinem Gesicht einer Regung abzugeben, griff ich blitzschnell zur Brusttasche, riss den Verschluss auf, um die tödliche Pille hervorzuholen. Das ganz hatte nicht einmal zwei Sekunden gedauert. In der dritte stopfte ich mir das tödliche Ding in den Mund und biss zu. Bevor ich es schaffte die Pille zu zerbeißen, steckte ein Finger zwischen meinen Zähnen, ein schmerzhafter Fluch ertönte von dem verdammten Wolf und mein Mund wurde mit brutaler Kraft aufgerissen.

„Netter Versuch", zischte eine tiefe, raue Stimme. „Nicht mit mir, Hexe!"

Mit seinen groben Fingern fischte er die Kapsel aus meinem Mund und ich spukte wütend, da ich Erde auf meiner Zunge schmeckte. „Scheißkerl!"

Noch während ich spukte und würgte, um ihn abzulenken, griff ich mit einer Hand unter meinen MagMan, wo ich mein Tantomesser versteckt hatte. Ich zog es in dem Moment, als er grob meinen Arm packt und das Handgelenk schmerzhaft gegen einen Stein am Boden schmetterte. Ich schrie auf und das Messer fiel zu Boden. Schneller als ich reagieren konnte, drehte er mich auf den Bauch und drückte mich mit der Hüfte der Länge nach auf den Boden. Nun hatte ich eine ganz andere Panik und vor Angst brüllte ich laut auf und trat um mich. Dabei traf ich seine Nase oder irgendetwas schmerzhaftes, denn er stöhnte und fluchte erneut. Aber sein Griff war eisenfest. Wie konnte jemand so schnell und so stark sein? Ach, stimmt ja, ein verfluchter, beschissener Werwolf!

„Herzallerliebst. Ja, ich bin ein verdammter Werwolf!", blaffte er mich an. Also hatte ich meine rasenden Gedanken laut ausgesprochen.

„Hör auf zu zappeln, verfluchte Hexe!"

Mit seinen Worten spürte ich ein Seil um meine Handgelenke im Rücken. Anschließend schlang er es um meine Fußgelenke und band sie zum Schluss zusammen, um mir jegliche Fluchtmöglichkeit zu nehmen. Zu guter Letzt durchsuchte er mich, wobei er sich meinen Rucksack und das letzte verbliebene Tantomesser schnappte. Wie um mich zu verhöhnen, spürte ich plötzlich die Klinge meines eigenen Messers auf der Haut in meinen Nacken. Ein Brennen folgte, dann ein pochender Schmerz, als der Wolf mit den Fingern rund um die Wunde zusammendrückte. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, versuchte mich aufzubäumen, um ihn abzuschütteln, als mir dämmerte, dass er meinen Tracker herausholte. Aber ich rührte mich kein Stück, da er mich mit einer Hand und seinem Körper viel zu fest hielt, bis er schließlich den Tracker aus meinem Nacken geholt hatte. Ich spürte ein kleines Rinnsal den Nacken zur Schulter hinunterlaufen. Mein Blut. Anschließend hörte ich ein Knacken, als hätte er den Tracker ganz einfach zwischen den Fingern zerdrückt, dann das Schaben eines Messer, das er einsteckte. Mein Messer, dieses Arschloch!

Am liebsten hätte ich geweint. Zuerst Soulin, dann der Tracker und jetzt die Messer. Die Tantos waren bis auf Nyles Medaillon das letzte, was mir aus meinem früheren Leben geblieben war und selbst die hatte er mir genommen. Ich war von beinahe allem beraubt worden. Ein schwerer Kloss steckte in meiner Kehle fest, der mich zu ersticken drohte, so fest biss ich die Zähne zusammen. Ich hatte auf ganzer Linie versagt. Meine Kameraden waren fort, wie Soulin waren sie tot und ich unfähiger Idiot war gefangen genommen worden. Ich verschluckte mich beinahe an meinem riesigen Stolz, den ich vor der Mission herumgetragen hatte. Von wegen ich sei gut ausgebildet. Nur weil ich nicht schlecht im Klettern und im Nahkampf war? Es war kläglich, ich war eine Witzfigur.

Diese niederschmetternden Gedanken durfte ich dem Feind nicht zeigen. Meine Trauer, meine Angst wandelte ich in pure Wut um, als er mich auf den Hintern herumdrehte. „Ich weiß gar nichts, verdammter Wolf! Aus mir werdet ihr nichts herausbekommen. Besser ihr bringt mich gleich um. Ich bin nur eine Last für euch."

Der Wolf starrte mich nur an, doch statt zu antworten, stopfte er mir einen Stofffetzen in den Mund, den er mir am Hinterkopf verknotete. Zusammengeschnürt wie ein Päckchen für die Post, dursuchte er mich noch einmal. Fand aber nichts mehr außer meine Haarstäbchen aus Silber, die er ebenfalls an sich nahm. Toll. Nyles Medaillon um meinen Hals hatte er zwar geöffnet, aber nach einem desinteressierten Blick wieder geschlossen und hängen gelassen. Nun war es das einzige, das noch mir gehörte und ich seufzte kurz auf. Zumindest etwas. Eine kleine Verbindung.

Damit ließ er mich liegen und stand auf, um sich mehrere Schritte zu entfernen. Der Werwolf ging auf einen anderen jungen Mann zu, den ich erst jetzt bemerkte und der mich intensiv musterte. Seine Augen leuchteten in einem unnatürlichen Violett und die hellblonden, beinahe weißen Haare trug er kinnlang. Also ebenfalls ein verdammter Wolf und der schönste Mann, den ich je gesehen hatte. Schon der erste Werwolf war attraktiv, aber auf eine grobe, animalische Art, dieser zweite war einfach nur schön, beinahe umwerfend. Zu meiner Schande fiel mir das sogar in meiner derzeitigen Situation auf, was ich mir damit erklärte, dass ich eine gute Beobachterin war und wir dazu ausgebildet waren, alle Daten zu speichern, die wichtig waren. Vermutlich war die äußere, attraktive Schönheit in ihrer menschlichen Gestalt nur ein weiteres genetisches Merkmal, um ahnungslose Menschen anzulocken. Der Gedanke stieß mir bitter auf, wenn ich mir vorstellte, wie sie mit ihrem falschen Getue Unschuldige köderten, um sie anschließend abzuschlachten. Denn genau das war es, was diese Kreaturen taten, egal wie zivilisiert sie sich gaben. Wir hatten in unserem Unterricht alles darüber gehört, den Werwölfen war nicht zu trauen. Zwar war uns nie klar gemacht worden, wie gut sie in die Rolle der Menschen schlüpfen konnten, aber das änderte nichts an den Tatsachen. Die Wölfe waren bösen und ihr einziger Daseinszweck bestand darin, uns Hexen auszulöschen, um die Menschen zu beherrschen, sie zu halten wie Vieh, das sie nach Lust und Laune verspeisen oder anderwärtig nutzen konnten.

Witch of the WolvesWhere stories live. Discover now