Kapitel 1. 2

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„Niemand hat wegen irgendetwas Schuld. Ich habe die Entscheidung selbst getroffen. Außerdem bin ich nun erwachsen, also kann ich gar nichts mehr falsch machen", scherzte ich, um ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, das seine Grübchen aufblitzen ließ. Wie die von Mum. Sie hatten dasselbe hübsche Gesicht. Und es war jedes Mal schön und tragisch zugleich, so viel von ihr in Nyle zu sehen. Ihr Tod lag drei Jahre zurück, dennoch tat es manchmal noch immer so weh, als wäre es gestern passiert. Dieser nagende Schmerz tief in der Brust, der sich wie eine Welle hoch aufbäumte und wieder verging, würde wohl ewig bleiben. Nyle grinste kurz, dann schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

„Mist, jetzt hätte ich es fast vergessen. Das hier wollte ich dir geben. Für deinen Geburtstag und als Glücksbringer für die Prüfung."

Hektisch lehnte er sich mit dem Oberkörper über die andere Seite des Bettes und kramte in einer Kiste herum.

„Du musst mir nichts schenken. Außerdem war mein Geburtstag schon vor zwei Wochen."

„Ja, aber da war ich noch nicht fertig. Außerdem ist heute die Prüfung und da kannst du jedes Glück brauchen", gab er zurück.

„Na vielen Dank auch", murmelte ich. Es war kein Geheimnis, dass ich über weniger magische Kräfte verfügte. Es war eher ein kleiner Skandal gewesen. Damals, als meine Mutter mit mir von einem normalen Menschen schwanger geworden war, anstatt von einem HeXanabkömmling, um die Magie zu stärken. Obwohl meine Mutter einige fragwürdige Dinge getan hatte, die uns im Ansehen der anderen Hexen herabgesetzt hatte, war sie die beste Mum gewesen, die ich haben konnte. Denn sie hatte sich Zeit für uns genommen, mit uns zu dritt gelebt und uns bis zum Ende bedingungslos geliebt. Daher nahm ich mir genauso jetzt die Zeit für Nyle und unterdrückte das panische Gefühl, endlich zu meiner Prüfung aufbrechen zu müssen. Solche Augenblicke waren wichtig.

„Gleich habe ich es. Einen Moment... ah, da!"

Schwungvoll kam mein kleiner Bruder hoch und hielt triumphierend einen Arm hoch. Mit einem breiten Grinsen, das noch tiefer seine Grübchen betonte, streckte er mir die Faust vor das Gesicht.

„Alles Gute, Fain."

„Danke, aber jetzt mach es nicht so spannend."

Leicht stieß ich ihm den Ellbogen in die Seite, woraufhin Nyle die Hand drehte und die Finger öffnete. Ganz langsam. Wobei er ein selbstgefälliges Lächeln im Gesicht kleben hatte. „Wusste ich doch, dass du es haben willst."

Ich streckte ihm wie eine erwachsene Achtzehnjährige die Zunge raus. „Nun hast du mich auch neugierig gemacht. Zeig her."

In seiner Handfläche blitzte es auf, als hielt er einen Stern in den schlanken Fingern. Dann erkannte ich das Sonnenlicht, das auf einem goldenen Medaillon schimmerte, auf dem eine Ranke mit filigranen Rosen eingeritzt war. Mums Medaillon.

„Das kann ich nicht annehmen. Behalte du es, Nyle. Wir haben fast keine Erinnerungsstücke mehr von Mum."

Kopf schüttelnd winkte er ab. „Du hast fast nichts von ihr, weil du das meiste mir überlassen hast. Aber du musst keine Angst haben, dass ich ohne diese Dinge anfange zu vergessen, nur weil ich jünger war als du, als sie gestorben ist." Liebevoll strich sein Daumen über die glänzende Oberfläche.

„Ich werde mich auch so immer an Mum und unsere gemeinsame Zeit im Cottage erinnern."

Das alte Cottage unten den meterhohen Eichen. Die Erinnerung grub sich wie immer wehmütig mit einem drückenden Schmerz in meine Brust. Normalerweise kamen Hexenkinder im Kindesalter, sobald sie die Schulbank drückten, gleichzeitig ins Hexeninternat, die oft von alten, bereits im Krieg gedienten Hexen geleitet wurden. Es gab aber auch einzelne Familienverbände, größere Häuser, in denen meist drei oder vier Hexen mit ihren Kindern lebten. Hier wohnten die Kinder bis zu ihrem vierzehnten Geburtstag bei ihren Müttern, was aber nicht oft vorkam. Jede Hexe im kampffähigen Alter ging so bald als möglich zurück ins Gefecht, in die Planung, Spionage oder andere Bereiche, um im Krieg zu dienen. Oder sie entschieden sich dafür, statt zu kämpfen, dem Land auf andere Weise nützliche zu sein, indem sie die Bevölkerung vor Stürme, Erdbeben oder dergleichen schützten. Durch die moderne Wissenschaft, in der vorrangig nach wie vor normale Menschen arbeiteten, konnte ein heranziehender Sturm, ein baldiges Erdbeben oder längere aufkommende Trocken- oder Regenperioden einige Wochen, Tage oder Stunden vorausgesagt werden. Sobald dies im Witch Earth Rescue System eingetragen wurde, kümmerte sich die Institution darum, die passende große Anzahl an Hexen mit entsprechender Elemtarmagie dorthin zu schicken. Manchmal gelang es, die Hurrikans, Tsunamis oder was auch immer komplett zu stoppen, ein anderes Mal sie einzudämmen, damit sie nicht zu großen Schaden anrichteten. Insgeheim wurden Hexen, die dort arbeiten als Wetterbrecher bezeichnet, da Earth Rescue Witch einfach zu lange war. Wiederum andere Hexen, die wie ich weniger magische Kräfte besaßen, setzten sich für Humans and Witches Rights ein, eine Organisation die benachteiligte Familien und vor allem Halbwaise und Waisen unterstützte. Oder es gab noch die Heiler, die wenigen Hexen, die keine Elemente wie Feuer, Wind, Wasser und dergleichen beeinflussen konnten, sondern das Fleisch selbst. Sprich jeden Knochen, Muskel, Sehne und Nerv in einem atmenden Körper steuern konnten, was meiner Meinung nach ziemlich beeindruckend war, obgleich ich keine Ahnung hatte, wie genau das funktionierte.

Auf alle Fälle retteten alle diese Arbeiten Leben. Ich hätte mich, ohne nachzudenken, ebenfalls nach der Ausbildung für die Witch Earth Rescue Institution gemeldet, aber leider fehlten mir dafür die nötigen magischen Kräfte. Daher würde ich in der Armee tätig sein, um auf diese Art meinen Beitrag zum großen Ganzen zu leisten. Jede einzelne Hexe war wichtig. Im Krieg, der Wirtschaft, der Politik, denn wir waren die Pfeiler, auf denen unser Land aufrecht stand. Es war zwar manchmal eine Bürde, aber gleichzeitig eine Ehre, die wir voller Stolz annahmen.

„Mach es auf! Mach es auf", forderte mein kleiner Bruder, der mich mit seiner hibbeligen Nervosität ansteckte. Ich grinste breit. „Okay, okay, sofort."

Mit einem leisen Schnappen öffnete ich das Medaillon. Darin steckte ein zusammengefaltetes Papier. Es war Zauberpapier, wie ich an der schimmernden Oberfläche erkannte.

„Du hast mir etwas gemalt", stellte ich breit lächelnd fest, während ich das Papier entfaltete, das am Ende A4 groß war. Darauf war meine Familie abgebildet, als wir noch vollständig waren. Mum ging in der Mitte von Nyle und mir, während wir uns an den Händen hielten. Gemeinsam schlenderten wir über eine wundersame Blumenwiese. Die Gesichter wirkten so detailliert gezeichnet, dass es beinahe wie ein Foto wirkte, obwohl dieses Bild nicht aus unserer Vergangenheit stammte. So unbeschwert. So unglaublich glücklich. Am liebsten hätte ich in das Bild hineingegriffen, um ein Teil davon zu sein.

„Ich habe es mit Hilfe unserer Lehrerin im Kunstunterricht gemacht. Los, streich darüber und lass dir sein wahres Wesen zeigen."

Witch of the WolvesWhere stories live. Discover now