Kapitel 2. 1 - Eine Begegnung der anderen Art

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Nachdenklich musterte ich, in die Nische der Eingangstür gebückt, die anderen Prüflinge. Wenn ich einfach so hinter ihnen nachliefe, würde ich bestimmt bemerkt werden und Probleme bekommen. Davon hatte ich schon genug in der strengen Hexenhierarchie, da benötige ich nicht zusätzlich eine Maßregelung oder gar einen Ausschluss von den Prüfungen, weil ich zu spät gekommen war. Nachdenklich ließ ich den Blick nach links und rechts huschen. Eine Idee schoss mir durch den Kopf, die ich sofort in die Tat umsetzte. Während die rund dreißig Prüflinge im Gleichschritt einer Oberhexe folgten, lief ich gebückt an der Innenseite der Hecke entlang, die das gesamte Wohngebäude umrundete. Durch den Rasen wurden meine schnellen Schritte gedämpft und das dichte Gewächs der Buchsbäume verbarg mich vor Blicken. Als ich an der Häuserecke angekommen war, führte der Weg weiter um das Gebäude, zweigte aber nach ungefähr zehn Meter in die andere Richtung ab, die vom Gebäude wegführte. Vermutlich ging der ganze Trupp hinüber zur Trainingshalle, die auf der anderen Seite des großen Parks lag. Verflucht, ich hätte besser gleich dorthin laufen und mich kurz vorher zu den anderen dazu schummeln sollen. Jetzt war es zu spät dafür. Vorsichtig spähte ich durch das Geäst und sah mich nach meinen Hexenschwestern um. Sie waren nun fast bei mir angekommen. Nur noch wenige Schritte, bis Oberlehrhexe Xana an mir vorbeikäme. Sie war eine um die Sechzig Jahre alte Hexe. Wer nun glaubte, sie wäre aufgrund ihres Alters der freundliche Großmuttertyp, der irrte sich gewaltig. Ihr Smaragdgrünes Haar hatte sie in geflochtener Präzision rund um den Kopf hochgesteckt. Die dunklen Augen waren zu grimmigen Schlitzen zusammengezogen, was ihre gesamte Miene verkniffen wirken ließ. Ein richtiger Sonnenschein. Ich verkniff mir ein Grinsen, atmete stattdessen erleichtert auf, als ich Soulin gegen Ende der Schlange entdeckte. Ihr leuchtendes, smaragdrotes Haar, das orangerote Strähnen aufwies, die wie Feuerzungen hervorblitzten, war zu einem Zopf zusammengebunden, der hinter ihrem Rücken hin und her baumelte. Unser Haar war das äußerliche Erkennungszeichen, das uns als Hexen auswies. Meines hatte einen dunklen Grundton, glänzte aber in Strähnen in verschiedenen hellen und dunklen Blau-, Türkis und Grüntönen, wobei sich auch einige lila Strähnen dazu geschummelt hatten, als hätte sich jemand dort oben bei der Farbe nicht entscheiden können. Gemeinsam mit meinem Olivenfarbenen Teint wirkte ich leicht exotisch, was wohl zu meiner Abseitsstellung in der Hexenhierachie passte. Egal, darüber machte ich mir jetzt keinen Kopf, sondern konzentrierte mich besser auf Soulin.

Ihr schwarzer Mantel mit goldenen und blitzblauen Applikationen an Schultern und den Knöpfen war etwas unförmig verbeult. Doch ich hatte keine Zeit, um mich darüber zu wundern. Kurz bevor Soulin an meinem Versteck vorbeikam, die allein in der Zweierreihe marschierte, zwängte ich mich durch den dichten Buchsbaum. Dabei zerrten Äste an meinen Haaren, an meinen Klamotten oder kratzen meinen Wangen entlang. Ich biss mir auf die Lippe, um ein Ächzten zu unterdrücken. Das einengende Gefühl schlug mir auf das Gemüt. Mein Herz pochte schneller, ausgelöst von dem Gefühl durch einen Fleischwolf gedreht zu werden. Bei Merlins Bart, ich hatte noch nicht einmal die Prüfung begonnen und fühlte mich bereits zerschunden und zerschlagen.

„Lass mich endlich durch, du stoisches Kraut. So etwas Anhängliches habe ich ja noch nie erlebt", brummte ich, während ich mich mühsam weiterschob. Endlich hatte ich es geschafft. Sofort lief ich zu Soulin, sprang ich in die freie Stelle neben sie und passte mich schnell ihren zügigen Schritten an, wobei ich das Keuchen und Gemurmel meiner Kolleginnen ignorierte. Es interessierte mich nur Soulins überraschtes Zischen: „Fain! Da bist du endlich! Wo hast du gesteckt?"

„Das weißt du doch. Es war vielleicht meine letzte Gelegenheit, ihn zu sehen, bevor wir auf Mission geschickt werden."

Ihre missbilligende Miene wurde weicher. Soulin war eine der wenigen, die von meiner engen Bindung zu Nyle wusste und wohl die Einzige, die mich verstand. Sie hatte selbst eine kleine Schwester, die sie über alles liebte.

„Ich weiß, tut mir leid."

Sie warf mir einen Seitenblick zu, während sie ihren Mantel aufknöpfte. „Was ist denn mit dir passiert?"

Damit meinte sie wohl meine Auseinandersetzung mit dem Busch. Hastig strich ich mir einige lose Strähnen aus dem Gesicht. Dabei zupfte ich irritiert drei Blätter aus meinem blau-grün-lila schimmernden Haar. Keine Ahnung wie ich aussah, vermutlich wie ein zerrupftes Huhn, das sich in einem Blätterhaufen gewälzt hatte. Zumindest fühle ich mich so.

„Tja, ich hatte eine Begegnung der anderen Art", gestand ich flüsternd.

„Wie bitte?", fragte sie mit höherer Stimmlage. Ich grinste.

„Nicht, was du denkst. Ich bin nur an einen Strauch geraten, der etwas anhänglich war. Habe wohl diese Wirkung auf andere."

„Keine Ahnung was du schon wieder für eine Geschichte erlebst hast, aber das ist im Moment egal. Schnell."

Sie öffnete ihren Mantel. Darunter kam ein schwarzes Stoffbündel zum Vorschein, das sie mir reichte. Gerührt schüttelte ich meinen Mantel aus und schnallte mir den Messergurt um, in dem meine zwei Tantomesser steckten. Jeder durfte sich seine Klingen selbst aussuchen. Es gab Bowiemesser – die waren mir zu kurz; Schwerter – zu dick und schwer; Katanas – zu lange und unhandlich – und viele mehr. Ich hatte mich nach längerem Üben mit Nahkampfwaffen für die Tantomesser entschieden. Sie stammten wie Katanas ebenfalls aus dem asiatischen Raum, waren aber kürzer und somit konnte man sie gerade noch an der Hüfte befestigen, anstatt sie am Rücken tragen zu müssen. Allein beim Rausziehen aus der Rückescheide hätte ich mir bei den Katanas beinahe mehrmals die Schulter ausgerenkt. Nicht mein Ding. Meine Tantos hingegen waren fünfunddreißig Zentimeter lange, einschneidige schmale Schwerter, die zur Spitze hin leicht nach oben gekrümmt und die an der oberen Klingenseite gezackt waren, um beim Herausziehen einer zugefügten Wunde noch größeren Schaden anzurichten. Bei den vielen Kämpfen mit Trainingspuppen hatten sie grandiose Dienste geleistet. Zufrieden schlüpfte ich schnell in den Mantel, bevor Oberhexe Xana etwas bemerkte.

„Danke, du bist die Beste", keuchte ich mit einem Kloss im Hals. Ohne mich anzusehen, zwinkerte Soulin und lächelte. „Für was hat man eine beste Freundin und Hexenpartnerin."

Zu meinem Glück oder weil meine Mum trotz der Verachtung anderer, dennoch Beziehungen gehabt hatte, waren Soulin und ich zu einem Hexenpaar erklärt worden. Es gab unterschiedliche Modelle, die bereits in der Ausbildung zusammengestellt wurden und meist nach Abschluss im echten Einsatz beibehalten wurden. Wie Fünfer oder Vierer Einheiten, die für größere Aufträge ein eingespieltes Team waren. Doch am häufigsten waren Dreiergruppen und hin und wieder eben auch Duos wie mich und Soulin. Sie entstammte einer angesehenen Hexendynastie und war in unserem Duett eindeutig diejenige mit den starken magischen Fähigkeiten, während ich mich auf die körperlichen verstand. Noch viel wichtiger war, dass wir bereits als Kinder oft miteinander gespielt hatten und unsere Freundschaft schon vor der Ausbildung ein festes Band war. Soulin war die Schwester, die ich nie gehabt hatte.

„Danke", wiederholte ich und knöpfte meinen Mantel zu, um michanschließend im Gleichschritt um meine Haare zu kümmern. Hastig drehte ich diefast hüftlangen Wellen zusammen zu einem lockeren Dutt, dann schob ich zweiEisensilberstäbchen zum Fixieren hinein. Fertig war die Hexerei. Und ich sahhoffentlich wieder präsentabel aus, als wir das weit gestreckteTrainingsgelände erreichten.

Witch of the WolvesWhere stories live. Discover now