Kapitel 1. 3

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Wie geheißen, strich meine Hand in einer leichten Wellenbewegung mit ein wenig Abstand über das Zauberpapier. Gleichzeitig gab ich den magischen Ton von mir, der für 'Öffnen, Zeigen, Preisgeben' stand. Der Zauberton mit dem gleichen Laut in einer tiefen Tonlage ließ die Dinge wieder ‚verschwinden, sie verbergen, einhüllen'. Das Bild in meinen Händen vergrößerte sich zur dreifachen Größe, wurde dicker und fiel wie ein Teppich auf meinen Schoß. Die Zeichnung selbst fühlte sich plötzlich vollkommen real an. Unsere Gesichter wirkten, als bestünden sie wirklich, das Bild hatte eine neue Tiefe bekommen. Die Blüten bestanden mit einem Mal aus tausenden einzelnen Blütenblättern in leuchtenden Farben. Vorsichtig strich ich über Mums Wange und zuckte kurz zurück. An meinen Fingerspitzen fühlte ich warme Haut. Ihre Haare kitzelten, wenn ich darüber glitt. Und die Blumen fühlten sich so weich an, wie echte Blütenblätter, die im Wind wankten. Zusammen damit wehte eine leichte Brise um mein Haar und der berauschende Duft der abertausenden Blütenblätter schwebte durch den Raum. Es war umwerfend.

„Bei Merlins Bart, unglaublich. Einfach magisch", hauchte ich.

„Warte, es wird noch besser", kündigte Nyle an und drehte das Blatt um, auf der eine andere Szenerie gezeichnet, nein, gezaubert war. Auf diesem lebendigen, duftenden, fröhlichen Bild waren Nyle, Mum, ich und einige weitere Hexen abgebildet, wie wir uns an den Händen hielten und uns in einem großen Kreis drehten. Dabei waren Nyle und ich noch Kinder und wir alle trugen bunte Blumenkränze in den leuchtenden Haaren. Auch Soulin, meine beste Freundin und ihre Schwester Amberly waren darauf zu erkennen. Es war eine tatsächliche Erinnerung an unsere Kindheit, von einer der Walpurgisnachtfeste, in denen wir den Winter vertrieben und den Frühling begrüßten.

Verdammt, ich liebte diese Feste, wenn alle Hexen und die Menschen unserer Dorfgemeinschaft unbeschwert zusammenkamen. Alle trugen Blumen im Haar, die Tische waren mit Essen und Getränken und kleinen Naschereien für die Kinder beladen, mit denen man sich in dieser Nacht den Bauch vollschlagen durfte. Der Duft von Lagerfeuer, gegrillten Würstchen, später warmer Schokolade und süßen Marshmallows lag stets in der Luft und gehörte zu dem Fest wie die zum Tanzen anregende Musik und das Gelächter im Hintergrund. Nyle wusste, wie sehr ich das Frühlingsfest zur Walpurgisnacht liebte. Er hatte zwei Szenen gewählt, die mir am meisten am Herzen lagen. Vor Rührung rann mir beinahe eine Träne aus den Augen.

„Du bist der Beste, weißt du das?", fragte ich sanft, dann grinste ich und meinte halb lachend: „Du bist einfach ein Genie, Nyle. Das ist der Hammer!"

„Ach, wie gesagt, ich hatte Hilfe von einer echten Hexe", winkte er verlegen ab. Männliche Hexenabkömmlinge hatten keine aktive Kraft, die im Gefecht einzusetzen war, noch nicht mal eine passive wie diese hier, um mit Zaubertönen Dinge zu beeinflussen. Das minderte aber nicht den Wert von Nyles künstlerischer Begabung. Ich umarmte ihn fest und atmete den sonnigen Duft seiner lockigen goldblonden Haare ein. Dabei wiederholte ich mit Nachdruck: „Trotzdem, es ist umwerfend. Das Werk eines richtigen Künstlers. Vielen, vielen Dank!"

„Gerne geschehen. Dann hast du etwas, das dich an uns erinnert, falls du nach den Prüfungen nach Europa geschickt wirfst."

Er sagte es mit betont fröhlicher Stimme, doch ich konnte spüren, wie wir beide einen Kloss im Hals bekamen. Es war eine Ehre nach Übersee an die Front geschickt zu werden. Es zeigte, was für eine mächtige Hexe man war und überschüttete einen meist mit Anerkennung und Ruhm. Wenn man denn lebend vom Einsatz zurückkam. Oft geschah die Einteilung zum Dienst direkt nach den Prüfungen. Vielleicht würde ich Nyle heute zum letzten Mal für eine sehr lange Zeit sehen. Ohne die Möglichkeit mich von ihm zu verabschieden, ohne mit ihm während meiner Mission zu kommunizieren.

„Egal, was passiert, meine Gedanken und mein Herz sind bei dir. Immer."

Nyle setze zu einer Antwort an, wurde aber brüsk von einer anderen Jungenstimme unterbrochen.

„Bei Salems Feuer, seid ihr bald fertig? Anders als ihr, würde ich gerne noch schlafen."

Verstrubeltes dunkelviolettes Haar erschien unter der Decke des zweiten Bettes auf der anderen Seite des Zimmers. Verschlafen blinzelte Samo, der Zimmergenosse meines Bruders mit goldbraunen Augen zu uns rüber. Halb verschlafen und miesepetrig. Dennoch sah er hinreißend aus. Obwohl Samo wie mein Bruder erst elf war, konnte man schon jetzt kaum die Augen von ihm lassen. Sobald er im Zeugungsfähigen Alter war, würde er viele Hexen glücklich machen, darin bestand kein Zweifel. Plötzlich spürte ich bei dem Gedanken einen Stich in der Magengrube und ich drehte mich zu Nyle. Wenn er groß war, würde er als Hexenabkömmling ebenfalls allen weiblichen, gebärfähigen Hexen dienen müssen. Als ihr kurzweiliger Besitz, ihr Spielzeug, ihr Zeitvertreib. Dabei war Nyle so viel mehr als ein gesichtsloser Zeuger von Hexen. Gütig, freundlich, kreativ, und vor allem ein wahrer Künstler. In einer anderen Welt könnte er ein gefeierter Maler sein. Sobald ich diesen aufmüpfigen Gedanken bemerkte, zuckte ich innerlich zusammen und schluckte benommen den bitteren Geschmack hinunter. Es stand mir nicht zu an dem System zu zweifeln, es gab gute Gründe für unsere Lebensweise und Regeln. Dann setzte ich wieder betont mein Lächeln auf und bemerkte, wie sich die zwei Jungs freundschaftlich veräppelten.

„So, Schluss jetzt", unterbrachen ich sie. „Samo hat Recht. Ich muss los. Tut mir leid."

Schnell packte ich Nyles Geschenk zusammen, band mir das Medaillon um den Hals, bevor ich meine Hände um Nyles Gesicht legte und ihm in die Augen sah, in denen ich mich selbst widerspiegelte.

„Pass auf dich auf, solange ich weg bin."

„Mache ich."

Seine Augen schimmerten leicht und ich musste mich zusammenreißen, damit ich nicht ebenfalls zu weinen anfing.

„Ich komme wieder. Versprochen."

„Ich weiß. Die Magie der Hexenmutter sei mit dir", flüsterte er den Segen, den ich leise wiederholte.

Abschließend lehnten ich meine Stirn an seine, während wir beide dem anderen zuflüsterten - die Worte, die Mum uns stets eingebläut hatte: „Du bist mutig, du bist freundlich, du bist wichtig."

Egal, ob ich als Mischblut die Tochter eines normalen Menschen war, oder Nyle als männlicher Hexennachfahr in einer weiblichen hexenbeherrschten Welt lebte - zählten wir. Wir waren genauso wichtig. Ein letztes Mal drückte ich ihn an mich, küsste seine Stirn, dann huschte ich endgültig mit den Worten „Bis bald, kleiner Bruder", aus dem Zimmer.

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Witch of the WolvesWhere stories live. Discover now