Kapitel 4. 1 - LAUF!

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Erst nach einigen Minuten, als ich nichts Verdächtiges hörte und die Hütte in unserem Rücken von den Bäumen verborgen wurde, entspannte ich mich ein wenig.

„Es tut mir leid, das war unüberlegt", flüsterte Soulin, die hinter mir her stolperte. Ihre betrübte Stimme wischte den letzten Rest meiner Wut fort, stattdessen hatte ich nun ein schlechtes Gewissen. „Muss es nicht. Ich habe überreagiert", gab ich zu. „Ist ja nichts passiert."

Mit einem Schulterzucken wollte ich es abtun, als genau in diesem Moment ein Heulen hinter uns zu hören war. Eines, das mir das Herz in die Hose rutschen ließ: denn es war ein verfluchtes Wolfsgeheul. Hatten die einen Wolf mit uns hier eingesperrt? Die wichtige Frage lautete jedoch: war es ein gewöhnlicher Wolf?

„Lauf!", schrie ich und preschte selbst voran, zwängte mich durch das Dickicht aus Bäumen, Farnen und Büschen. Die Blätter und Äste verfingen sich in meinen Klamotten, meinem Haar, ganz so, als wollten sie nach uns greifen und aufhalten. Verbissen kämpfte ich uns noch schneller voran, während mein Herz in doppelter Geschwindigkeit schlug. Hinter uns hörte ich erneut das Heulen eines Wolfes. Es klang nun viel näher. Während ich lief, berechnete ich im Kopf unsere Entfernung bis zum Zielort. Ungefähr fünf Minuten in die südöstliche Richtung, bis wir es erreicht hatten. Eher sieben, weil wir mit jeder Minute langsamer wurden, gleichzeitig hörte ich bereits das Näherkommen des Wolfes. Spürte es durch meinen Körper, wie einen Urinstinkt. Hexen und Wölfe waren seit jeher Feinde, wir erahnten die Andersartigkeit des fremden Wesens. Wir würden es nicht schaffen, nicht wenn wir einfach durch den Wald davonliefen. Trotzdem trugen mich meine Beine so schnell voran, dass sie mindestens genauso brannten wie meine Lungen. Gleichzeitig ging ich in Gedanken unsere Optionen durch. Ein Windzauber, einen Sturm hervorrufen oder Magie gegen die Bäume einzusetzen, um den Weg zu verstellen, brächte rein gar nichts. Der Wolf würde einfach darüber hinwegspringen, und uns weiter in seinem schnelleren Tempo verfolgen. Und Soulin und ich brauchten unsere Luft zum Laufen, anstatt einen Zauberton zu singen. Aber vielleicht irrte ich mich ja. Hoffte es.

Wir kamen trotz des verwilderten Untergrunds gut voran, bald hätten wir es geschafft und das, ohne dem bestialischen Wesen zu begegnen. Ein Hoffnungsschimmer, der mich kurz durchatmen ließ. Mit einem Schlag erinnerte ich mich an meinen wiederkehrenden Traum. An das erleichterte Gefühl, fast in Sicherheit zu sein, nur um gleich darauf geschnappt zu werden. Plötzlich war ich hellwach, die Grübeleien fielen von mir ab und ich wirbelte herum. Erschrocken stieß ich ein Keuchen aus. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, dass Soulin einige Meter hinter mir stehen geblieben war und eben die Magie zu sich rief. Bäume ringsherum knackten und fielen anschließend wie zerbrochene Zahnstocher in Richtung des Waldes, fort von uns. Dabei schoben sich die gefällten Bäume ineinander, was ein Durchkommen auf dem Waldboden so gut wie unmöglich machte. Aber ein Wolf kümmerte sich nicht um einen versperrten Weg, sondern übersprang dieses einfach. Ich musste Soulin von hier wegschaffen. Nicht nur, weil der Wolf bald hier wäre, sondern weil sie sich vollkommen verausgabte. Eine Hexe ohne Magie, die jeden Tropfen davon in ihren Zauber steckte, sich wortwörtlich auswrang, war keine Hexe mehr. Sie war nichts, bloß noch tot. Mein Herz verkrampfte sich als ich sie vor magischer Erschöpfung schwanken sah. Dann beschleunigte es sich, als ich einen dunkeln Umriss oben auf den Berg voller abgebrochener Baumleichen sah. Ich erwischte Soulins Kragen und zerrte sie von der Stelle weg, an der sie stand.

„Verschwinde von hier. Öffne die Tür!"

„Aber-", protestierte sie, doch ich schnitt ihr das Wort ab.

„Geh! Der Wolf ist da. Und du hast fast keine Kraft mehr."

Sie wollte erneut protestieren, als sie meinen Blick folgte und die Angst vor den Wolf ihr den Atem raubte. Aber ich ließ sie nicht zu Wort kommen, sondern zog eines meiner fünfunddreißig Zentimeter langen Tantomesser und brüllte sie an.

„Verdammt, LAUF!"

Nun nahm sie endlich die Beine in die Hand und ich hoffte, sie würde es schaffen, die Tür rasch zu öffnen. Im gleichen Moment sprang der dunkle Schatten von den Baumstümpfen in meine Richtung und ich duckte mich so schnell ich konnte zwischen den Büschen hindurch. Dennoch hatte ich ihn in der kurzen Sekunde im Licht des Mondes gesehen. Ein riesiger grauschwarzer Wolf, dreimal so groß wie ein gewöhnliches Tier, mit Augen so stechend Whiskybraun, als trüge er leuchtende Kontaktlinsen. Sie hatten tatsächlich einen verfluchten Werwolf mit uns hier eingesperrt. Hatten die noch alle oder hatten sie zu lange an magischen Kräutern geschnüffelt? Das war Irrsinn, komplett verrückt und vollkommen... tödlich.

Die Angst fraß sich wie ein Wurm durch meinen Körper, wie es vermutlich bald seine langen, rasiermesserscharfen Zähne tun würden, wenn ich keinen Ausweg fand. Hastig lief und stolperte ich drauf los, in die andere Richtung, in die wir eigentlich mussten. Einfach nur weg von Soulin und diesem Ungetüm. Dabei kam ich bloß langsam voran und hatte das Gefühl, als könnte ich seinem Atem direkt hinter mir spüren, den warmen Windhauch bereits auf der Haut fühlen. Doch das war lächerlich, oder? Ich verstärkte den Griff um mein Tantomesser und wagte einen Blick hinter mich. Und sah mich einem riesigen Gebiss voller weißen Schaums und gelbstechenden Augen wieder. Bevor ich mich stoppen konnte, schrie ich drauf los und rannte weiter, was sinnlos war. Wie konnte ein so riesiges Tier, so schnell sein? Das war wohl einer der Gründe, warum wir ihnen trotz unserer Magie, nicht vollends überlegen waren. Ein Krieg, den ich schon vor dem Eintreten verloren hatte, wie es aussah.

Vor meinen inneren Augen blitzte das Gesicht von Nyle und Soulin auf, die einzigen zwei Menschen, die ich noch hatte, dann spürte ich den reißenden Biss in meinem Oberarm. Ich keuchte vor Schmerz auf. Dennoch riss ich mich mit einem heftigen Ruck los. Dadurch wurde ich von dem Werwolf fortgeschleudert, stolperte nach hinten und landete rücklings zwischen zwei umgeworfenen Baumstämmen. Doch statt liegen zu bleiben, rutsche ich zwischen den beiden Stämmen hindurch weiter nach unten und landete in einer engen Auskerbung, einer natürlichen Hölle. Über mir hörte ich den Werwolf, der nun ebenfalls auf die Stämme gesprungen war, aber er war viel zu groß, um durchzupassen. Instinktiv hob ich meinen unverletzten Arm und stieß im selben Moment nach oben, als der Wolf sich zu mir herunterbeugte, um mit seinem Maul nach mir zu schnappen. Dabei traf ich mit der Messerspitze genau in seinen dicken Hals. Schnell drehte ich das Handgelenk, um noch eine größere Wunde in sein Fleisch zu reißen und ignorierte das dickflüssige Blut, das auf meinen Oberkörper herabregnete. Bei all dem Eisengeruch und dem Adrenalin in meinem Blut, wurde mir schlecht und meine Hand zitterte, doch ich ließ mein verdammtes Tantomesser nicht los. Vermutlich war das der einzige Weg, den schwerverletzen Werwolf in Schach zu halten. Obwohl er halbtot war und vor Schmerz umkommen musste, knurrte er mir wütend warme, blutfeuchte Atemluft ins Gesicht. In seinen Augen las ich den Tod, nur war noch nicht entschieden, welcher: seiner oder meiner.


Witch of the WolvesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt