Kapitel 1. 1 - Ein Bild aus leuchtenden Farben

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Mein keuchender Atem und donnernde Schritte über gefrorenen Waldboden dröhnten durch die sternenlose Nacht. Ich war viel zu laut und gleichzeitig zu langsam. Er war dort irgendwo hinter mir, ich konnte ihn spüren, obwohl er leise und unsichtbar, wie ein Schatten durch die Dunkelheit schlich. Die Angst hatte mich gepackt und ihre spitzen Krallen tief ich mir festgegraben. Wenn ich nicht schneller lief, würden sich bald ganz reale Krallen in meinem Fleisch bohren. Ein Schluchzen kündigte sich in meiner Kehle an, das ich sogleich stoisch hinunterschluckte. Nein! Reiß dich zusammen! Lauf schneller!

Ich musste es nur raus aus dem Wald bis zu den Barrikaden schaffen. Es war nicht mehr weit. In der Ferne hörte ich ihre Gesänge, als würden sie mir bereits Rückendeckung geben. Der Wind peitschte auf und Regen begann über das Blätterdach auf mich herunter zu prasseln. Bald. Bald würde ich in Sicherheit sein. Entschlossen ballte ich die Fäuste und holte den letzten Rest aus meinen Muskeln heraus. Nie in meinem Leben war ich so schnell gelaufen. Vor mir lichtete sich langsam der Wald, das Licht der Fackeln kam in Sicht, wie ein rettender Leuchtturm in der Ferne. Fast hatte ich es geschafft. Ich würde in diesem verdammten Wald nicht sterben! Ein Lächeln huschte über meine Lippen, obwohl meine Lunge wie Feuer brannte, meine Beine protestierten und ich nichts mehr hörte als das rauschende Blut in meinen Ohren. Es existierte nur noch der Lichtschein vor meinen Augen und das laute Dröhnen meines viel zu schnell schlagenden Herzens. Plötzlich sah ich rechts von mir im Augenwinkel eine Bewegung. Etwas Warmes streifte mein Bein und ich stolperte. In der nächsten Sekunde wurde ich schmerzhaft am Handgelenk gepackt und ich wusste, es war vorbei. Der Wolf hatte mich geschnappt. Jeden Moment würde sich sein riesiges Gebiss mit tödlich scharfen Zähnen auf mich stürzen und zur Unkenntlichkeit zerfetzen...

Ein sanftes Rütteln, das sich viel zu vertraut anfühlte, um hierher zu gehören, zog mich aus der Dunkelheit meines wiederkehrenden Alptraumes hoch. Eine Hand auf meiner Schulter, die nicht von mir abließ, mich erdete, mir Sicherheit gab und die letzten Spinnenweben artigen Erinnerungen abschüttelte. Es war nur ein Traum gewesen. Zwar der gleiche, aber nur ein dummer Traum, der nichts zu bedeuten hatte. Innerlich seufzte ich erleichtert auf.

„Fain, Fain, wach auf! Es ist bereits morgen. Sonnenaufgang!", flüsterte Nyle neben mir, was mich vollends aus dem Schlaf riss. Die Sonne war schon aufgegangen? Mist! Ich würde am wichtigsten Tag meines bisherigen Lebens zu spät kommen, weil ich mich am Abend zuvor zu Nyle in den Jungs-Trakt geschlichen hatte.

„Du kommst zu spät", wiederholte er meine Gedanken, seine Stimme eine Oktave höher. Die gleiche Anspannung pulsierte mit einem schneller schlagenden Herzen durch meinen Körper, als ich die Lider öffnete, und spiegelte sich in seinen dunkelblauen Augen wider, die mir zugewandt waren. Augen, die beinahe die Farbe von Veilchen aufwiesen und die haargenau den meinen glichen. Ich setzte mich aufrecht ins Bett, im nächsten Moment sprang ich heraus und sammelte meinen Pullover, und Stiefel zusammen, die ich hastig überstreifte.

„Quatsch, ich schaff das schon. Ich muss nur schnell beim Fenster rausklettern, über das Regenrohr in den oberen Stock zur Mädchenetage klettern und anschließend über den Sims in mein Zimmer schleichen."

„Ach, nur", wiederholte er im gleichen Tonfall. „Wir sind ja bloß im vierten Stock, und wer weiß wie viele Meter über dem harten Betonboden."

Dem konnte ich nicht wiedersprechen, aber ich war gut im Klettern und bisher war noch nie etwas passiert, wenn ich zu unserem Stockwerk hinaufgeklettert war. Wobei ich zugeben musste, dass es wirklich praktisch gewesen wäre, wenn wir Jugendliche alle im gleichen Stockwerk untergebracht wären. Aber die räumliche Trennung sollte wohl ebenso für die emotionelle dienen. Im Erdgeschoss und im ersten Stock waren die menschlichen Bediensteten untergebracht. Der zweite Stock beherbergte das Lehrpersonal, sowie die Hexen, die auf uns aufpassten, damit wir neben dem Unterricht keinen Blödsinn anstellten. Dritter und vierter Stock gehörte den Studenten der Hexenakademie, wobei wir weiblichen Hexen im oberen Geschoss schliefen. Und über uns, im obersten Stockwerk waren die Oberhexen, die Leiterinnen der jeweiligen Kurse und die Akademieleitung untergebracht.

„Das mache ich nicht zum ersten Mal, Kleiner", hielt ich dagegen. Dabei schnürte ich meine Stiefel zu, damit meine Finger beschäftigt waren, um nicht durch seine hellen, blonden Locken zu wuscheln, die zum Ende hin glänzten und beinahe wie gesponnenes Gold aussah. Das hasste er, seit er zehn geworden war. Ein halbes Jahr später, würde er mir nun vermutlich die Hand abbeißen, wie ein Tollwütiger Wolf. Der Gedanke ließ mich erschaudern. Zu früh und zu nahe an meinem Traum.

„Ja, aber sonst machst du das in Ruhe vor Sonnenaufgang, wenn du dich nicht beeilen musst und dabei keine Angst hast, gesehen zu werden."

Damit hatte er ebenfalls recht. Mit der Höhe hatte ich kein Problem. Das war aber noch lange kein Grund, hastig über das Regenrohr und das Dach zu klettern. Das konnte nur ins Auge gehen. Und warum sonst hatte ich diesen blöden Traum, wenn nicht als Warnung zu stolpern, wenn ich zu schnell hastete?

„Mich wird niemand erwischen. Und wenn doch, sag ich ihnen, ich hätte mir ein wenig Spaß mit einem Jungen gegönnt", versicherte ich ihm. Bei dieser Andeutung würde man eine eindeutige Schlussfolgerung ziehen. Womit ich von der Ordensleiterin bestimmt weniger Problemen bekommen würde, wenn sie glaubte, ich hätte mich im Bett mit einem x-beliebigen Jungen ‚vergnügt', anstatt in Wahrheit bei meinem kleinen Bruder zu übernachten. Familiäre Banden waren bei uns nicht existent, zumindest was die Beziehung zwischen weiblichen und männlichen Verwandten betraf. Egal ob Onkel, Brüder oder Väter - sie spielte keine Rolle. Genau genommen spielen Männer in unserer Welt generell keine wichtige Rolle. Oder normale Menschen. Weibliche Hexen bekleideten seit unserer Gründung die wichtigsten Posten in New America, sei es politisch oder wirtschaftlich gesehen. Im Gegenzug schützen wir unser Land und alle Menschen darin. Hurrikans, Erdbeben, Überschwemmungen, Ernteausfälle waren dank uns ausgemerzt, die Natur wurde in ihrem Aufbäumungsversuch gegen uns, in ihre Schranken gewiesen. Wir Hexen hatten sozusagen die Welt gerettet. Nur kämpften wir nun gegen einen noch viel erbarmungsloseren Feind. Bald würde ich Teil dieses Kampfes werden. Vorausgesetzt, ich schaffte es rechtzeitig zur Prüfung, die über meine militärische Zuteilung entschied.

„Ich will nicht, dass du wegen mir Schwierigkeiten bekommst." Nyle ließ den Kopf hängen und starrte auf seine verschränkten Finger hinab. In voller Montur setzte ich mich neben ihn auf die Matratze. Für meinen kleinen Bruder nahm ich mir immer Zeit, egal wie wenig ich davon hatte.

Witch of the WolvesWhere stories live. Discover now