Der Schlaf der Ewigen

By Tina-Krauss

65 1 0

Sandro ist fünfzehn Jahre alt und Sinti, er wird als Kind seiner Familie entrissen und nach Babel , wo er dem... More

Primis
Sekundus
Tertius Teil 3
Quartus Teil 4
Quintus Part 5
Sextus Teil 6
Septus, Part 7
Octavo Part 8
Decimatio, Teil10
Undecimus/ Teil11
Duodecimus/ Teil12
Tertius Decimus/ Teil13
Quartadecima/ Teil14
Decimo Quinto/Teil15
Sextus Decimus/Teil16

Nonus Part 9

2 0 0
By Tina-Krauss



Muriel ging mit Hein, er umarmte sie und er schützte sie. Bei ihm fühlte sich das Kind, das nun zu den Ewigen gehörte, wohl und er lehrte sie vieles, unter anderem Neutralität.

Er nahm sie mit in die Menschenwelt, wo er seine Aufgabe verrichtete. Sie wandelten in den Schatten, als trenne sie ein Vorhang von den Lebenden.

Sie gingen durch die düsteren Gassen, wo man die Kinder weinen und die Erwachsenen husten hörte.

Damals war die Welt noch jünger, aber sie war nicht besser. Das ist sie nie gewesen, doch manche Lügen halten sich ewig.

Manchmal war da so ein zartes Leuchten, um eine Person und Hein hielt inne, er zeigte auf das Glimmen und sagte: »Saad sedam!«

Das war der Zauberspruch, mit dem sich der Schleier lüftete und sie traten aus den Schatten. Hein berührte die glimmende Person und sie erhoben sich und folgten ihm. Doch es war nur das Glimmen selbst, das sich erhob und der Körper blieb dort.

Manchmal, wenn es Kinder waren, wurde Muriel das Herz schwer und sie fragte: »Bist du nicht manchmal traurig und haderst du nicht mit deiner Aufgabe?«

»Eigentlich nicht, ich bin der Tod, ich sehe es nicht so. Und kennst du nicht den Spruch: Jeder hat sein Päckchen zu tragen?«

»Nein!«, antwortete das Kind wahrheitsgemäß.

»Aber du hast dein Leben auch nicht zu Ende gebracht. Bist du traurig darüber?«

»Manchmal habe ich das Gefühl, ich hätte etwas verloren und noch nichts Neues gefunden.«

»Das wirst du sehr bald!«

»Nehmen wir den nicht auch mit?«

Hein schüttelte den Kopf: »Er schläft doch nur. Gehe mal näher ran!«

Muriel tat, wie ihr geheißen. Der Mann war in den besten Jahren, er lag in voller Montur mit Tweet-Hose und hohen Reitstiefeln auf einer Bank und schnarchte. Er war behaart, wie alle Männer behaart waren und seine Mundwinkel lächelten. Als Muriel ihn berührte stieß sie an eine Flasche, die wegrollte. Doch das Kind empfing noch etwas Anderes, nämlich die Ahnung eines sonnigen Traumes, mit Wärme und einem Kuss. Muriel zuckte zurück.

»Warum lacht er so?«

»Er träumt, Kind!«, erklärte Hein.

»Es ist schön!«

»Ja, das ist es, aber die Menschen sagen, der Schlaf sei der kleine Bruder des Todes.«

»Aber kann es nicht auch die kleine Schwester sein?«

»Ja, das kann es«, Hein lachte.

Bei den Versammlungen war Zesiel sehr abweisend zu Muriel, aber auch Dschaymalla schien ihr nicht sehr zugetan. Es schien, als sei sie so ein Anhängsel, mit dem niemand hier im Elysium etwas anzufangen wusste..

»Was bringst du sie mit hierher, Hein? Sie ist ein Mensch und wird immer ein Mensch bleiben. Ich dulde es nicht, dass sie an unserer Runde teilnimmt.«

»Ihr wisst doch, dass es oftmals etwas dauert, bis die Aufgabe den Ewigen findet und sie soll aus unseren Gesprächen lernen.«

Zesiel sah Muriel durchdringend an: »Du bist keine Solidos und daher an dieser Tafel nicht willkommen. Ich muss darauf bestehen, dass du draußen wartest.«

»Das hast du nicht zu entscheiden, Zesiel!«, mischte sich Dschaymalla ein.

»Aber ich entscheide, ob ich bleibe oder gehe!«

»Nun, denn«, Dschaymalla stöhnte, »warte doch draußen, mein Kind! Du kannst in meinem Archiv verweilen.«

Hein schlug mit seinen großen Händen auf den gläsernen Tisch, seine Augen wurden hinter dem Netz schwarz, als sein in ihnen ein Unwetter heraufgezogen.

Doch Muriel ging und war bald darauf im sogenannten Archiv des Elysiums. Das große Gewölbe war vollgestopft mit einigen Absonderlichkeiten. Da hingen Marionetten mit Fäden an der Wand, goldbeschlagene, dicke Bücher standen auf Regalen, Kämme und Tiegel waren dabei, Trinkbecher, Ketten und Schalen mit bunten Bonbons. Gerade streifte ihre Hand eine Perlenkette und sie sah auf die Puppen: »Spiel mit uns!« Sie wühlte in den Süßigkeiten: »Vernasch uns!« Gerade wollte sie eine knallblaue Zuckerkugel in den Mund stecken, als etwas ganz und gar ihre Aufmerksamkeit gefangen hielt und sie sie fallenließ. Sie ging an einem Sattel vorbei, an einem Schaukelpferd mit Trense und ließ ein Sternenguck-Ding links liegen. Da lag eine Art Uhr, sie war groß, dick und golden. Sie glänzte und sie roch gut, nach etwas, das man nicht gerne liegen lässt.

Andächtig berührte sie das Metall und zog einen Kreis um die goldene Dose. Da gab es ein helles Summen, das war nicht unangenehm und durch Muriels Hand lief ein Kribbeln.

»Hallo Uhr! Warum gehst du nicht?« Muriel hatte das Kleinod in die Hand genommen. Sie betrachtete es.

»Wohin soll ich denn gehen?«

Muriel erschrak so, dass sie das sprechende Ding beinahe fallen ließ. Sie fasste sich wieder:

»Nun bist du nicht so ein Teil, dass die Zeit anzeigt?«

»Ich bin Scazzi und ich bin eine Art Dose. Zeit spielt in meiner Welt keine Rolle. Ich habe hier auf dich gewartet.«

»Warum?«

»Ich werde dir helfen deine Aufgabe zu erfüllen. Mach mich auf!«

Vorsichtig drehte das Kind an dem Deckel der Dose, der aus einer Drehscheibe mit seltsamen Symbolen und einer kleinen eingelassenen Kuppel bestand. Die Kuppel war aus geschliffenem lilafarbenem Stein.

Muriel drehte die Drehscheibe eine halbe Drehung nach links und zweimal ganz nach rechts herum. Da sprang der Deckel auf und unter ihm befand sich glitzerndes Pulver, das verführerisch roch – nach Erinnerung und nach Freiheit.

»Komm, ich zeig dir was!«

Sie kam dem Pulver mit ihrer Stupsnase sehr nah.

»Willst du schlafen?«, fragte Scazzi.

»Jaaaa!«, hauchte das Kind mit halb geschlossenen Lidern.

»Komm näher! Und willst du auch träumen?«

»Jaaaa!« Ein klitzekleiner Windhauch kam herbei, gerade so einer, wie jener, der bei ihrer Ankunft den Zimt auf den Milchreis geweht hatte.

Das Pulver war schillernd wie Sternenstaub und sie atmete es ein. Eine Welt aus leuchtenden Farben öffnete sich ihr.

»Ich zeige dir, was war und was sein kann, wenn du auf mich vertraust. Du sollst von nun an die Hüterin des Schlafes sein. Dein Ort wird Nador sein und glaube mir die Menschen brauchen den Schlaf.«

»Brauchen sie auch die Träume?«

»Mehr als du glaubst. Ein Traum ändert alles, er ändert dich, ändert mich. Am Ende ändert er die ganze Welt!«



   9 -Wendung


Als ich erwachte war, mir meine Erinnerung noch sehr nah und ich verstand erst nicht, warum ich diesen Lappen vor dem Gesicht hatte. Die Blonde von gestern Abend schlief neben mir und ich überlegte kurz ob ich was mit ihr gehabt hätte. Da sah ich Coyote in seiner lächerlichen Maskerade und da erst fiel der Groschen.

Wo wir gerade bei Groschen waren – ich fühlte in meiner weiten Tasche nach der Münze und als meine Fingerspitzen das Metall, das ungewöhnlich warm war, berührten, da fühlte ich mich erleichtert und atmete auf. Coyote, alias Shahir, atmete nicht nur, er schnarchte leise. Ich hielt ihm spaßeshalber durch den Schleier die Nase zu. Er schnaufte und wollte um sich schlagen, da ließ ich die Nase los und hielt seine Hände, damit er die Blonde nicht aufweckte.

»Guten Morgen, Prinzessin!«

»Was willst du, blöder Arsch?«

»Lass abhauen, die pennen alle noch und das Ding geht im Hellen nicht durch!«

Er starrte mich mit seinen Kohleaugen feindselig an, dann besann er sich eines Besseren und versuchte aufzustehen. Doch der linke Arm der Blonden lag auf seinem Bauch.

Er wollte ihn wegschieben und deutete mit den Augen darauf, die Blonde seufzte: »Lass uns Tanzen!«, sagte sie im Schlaf.

»Hi...lf...e!«, flüsterte Coyote.

Ich erbarmte mich und hob ihren Arm mit den perlmuttfarbenen Fingern an, damit er sich bewegen konnte. Ihr Schleier ging nur bis über die Nase, wie es auch bei Coyote der Fall war.

Sie riss mit einem Mal die blauen Augen auf:

»Mit dir hab ich noch nie getanzt!«

»Ich weiß!«, entgegnete ich und deckte sie zu. Sie drehte sich zur Seite und ihre Augen waren zu.

Coyote und ich schlichen an den Wänden entlang, niemand kam uns entgegen, das Einzige, was wir hörten, war das gleichmäßige Geräusch des Wassers im Springbrunnen. Vor einer großen Flügeltür stand eine Wache, er war in voller Montur mit Helm und Brustschutz, was lächerlich wirkte. Er gähnte und er tat mir leid, sicher hatte er die halbe Nacht dort gestanden. Das Ding war nur: So kamen wir nicht heraus und das andere war: Wo war Yllisam? Sie musste doch hier irgendwo im Harem sein. Doch wo?

Hatte Nezar meine Schwester verkauft? Das wäre grauenvoll.

Plötzlich hörte ich jemanden rufen, irgendetwas mit Tee und siehe da, der Wächter verließ seinen Posten. Die Tür war frei. Wir könnten einfach so hindurch spazieren. Aber sollte ich das?

Sollte ich gehen, sollte ich bleiben? Wir waren nur noch zehn Meter weit fort und es wurde Zeit, eine Entscheidung zu treffen.

»Ich weiß nicht«, flüsterte ich.

»Wie du weißt nicht?«, hakte Coyote nach.

Er sah gar nicht so übel als Mädchen aus.

»Meine Schwester? Ich will sie doch...ich muss sie doch.«

»Freund«, er legte mir seine kleine Hand auf die Schulter, »alles, was du willst, aber bedenke, das ist ein gefährliches Ding und wir sind nur so weit entfernt an einem Strick zu baumeln. Das hilft ihr auch nicht.« Er zeigte einen Abstand, wo kaum die Münze dazwischen passte.

Die Münze? Plötzlich war sie wieder heiß an meinem Oberschenkel.

Coyotes Hand berührte den Knauf und ich nickte ihm zu.

»Lass erst mal gehen!«

Die rote Tür öffnete sich und gab den Blick in einen Flur mit goldenen Wänden und spitzzulaufenden Fenstern frei. Ich nahm Coyote an der Hand: »Komm!«

Als wir gerade in unsere alte Identität entschwinden wollten, stoppte uns eine bekannte Stimme: »Hey, wo wollt ihr denn hin?«

Es war Nou-Nou. Wir hätten auch rennen können, aber ich entschied mich zu warten.

Coyote drehte sich um. »Ins Bad«, meinte er trocken, »wir wollen ins Bad.«

»Da geht es nicht da lang. Ich zeig es euch.«

Ich musste ja stumm bleiben, weil meine Stimme zu dunkel war, aber ich zwinkerte Coyote zu und hoffte, er verstünde.

Coyote räusperte sich, als wir an einer Ecke mit Sitzkissen und Sesseln, zwischen denen zwei Wasserpfeifen standen, vorbei gingen.

»J a, Shazir?«

»Sind das alle Frauen im Harem gewesen oder gibt es noch andere Schwestern?«

»Es gibt noch andere, solche die uns höher gestellt sind und welche, die andere Aufgaben haben.«

»Welche Aufgaben?«, erkundigte sich Coyote und meine Fantasie schlug gerade Salto.

»Ich zeige es euch!« Nou-Nou steuerte auf eine grüne Tür neben einer riesigen Palme in riesigem Topf zu. Sie öffnete sie und ich konnte im grellen Licht kaum etwas sehen. Fest stand, es war ein sehr rundgehaltener Raum mit bunten Gardinen. Niedrige Tische standen darin und Regale mit Spielsachen. Ich sah Nou-Nou fragend an.

»Das ist Hadana, die Kinderkrippe! Oder habt ihr geglaubt, Nezar hätte keine Kinder? Er hat fast achtunddreißig. Also es kann nicht mehr lange dauern.«

Eine rundliche Frau, relativ klein, kam auf uns zu. Sie hatte nur eine spärliche Kopfbedeckung, trug aber weder Schleier noch Kopftuch.

»Hallo Zara«, Nou-Nou verbeugte sich und Zara machte ein Ruhezeichen.

»Sie schlafen noch.«

»Ich wollte den neuen Mädchen alles zeigen.«

»Na, gut! Weil du es bist! Folgt mir!« Die Kinderfrau ging vor uns her und wir ließen den großzügigen Raum, in dem es eine Rutsche und ein Ballbad gab, hinter uns, um hinter ihr in eine niedrige Tür einzutreten. Dort waren lauter Kinderbetten an den Wänden. Leises Wimmern verriet, dass auch Babys darin waren.

In einer Ecke saß ein Schatten, es war eine Sie und sie hielt ein Baby in Brusthöhe. »Hallo«, grüßte die Kinderfrau.

»Sei gegrüßt!«, erwiderte sie leise.

Ihre Stimme! Irgendetwas an ihrer Stimme kam mir bekannt vor. Schüchtern gingen wir näher.

»Wen bringst du?«

»Ich bringe zwei neue Mädchen und führe sie rum«, erklärte Nou-Nou.

»Sag nur?« Sie nahm das Kind hoch und legte es sich über die Schulter und klopfte ihm auf den Rücken. Schüchtern ging ich näher, da hob sie den Kopf und sagte: »Ich bin Sam, ich diene Nezar als Amme.« Sie sprach noch weiter, aber die Worte kamen nicht bis zu meinem Gehirn, denn ein Blitz war in mein Herz eingeschlagen. Es war Ylli, meine Ylli. Ich hatte sie gefunden. Am liebsten hätte ich es herausgeschrien. Meine Ylli, sie war hier, saß vor mir. Im letzten Moment dachte ich an Nou-Nou und hielt ihr nur recht steif die Hand hin. Sie drückte sie und hob die Braue. Nein, es konnte nicht sein, dass sie mich erkannte. Ich wollte ihr ein Zeichen geben, sagen: »Ich bin es, Sandro! Ich halte heute mein Versprechen, dich zu beschützen!«

Sie stand auf und legte das hübsche Kind in eine Wiege, wo es sofort einschlief. Coyote, alias Shahir, trat zu uns: »Ist das dein Baby?«, stellte er eine wichtige Frage mit der ihm eigenen Distanzlosigkeit.

Sie schüttelte den Kopf: »Nein, wo denkst du hin?« Mein Herz beruhigte sich etwas. Da ging Ylli zu einem anderen Bett:

»Das ist mein Baby.«

Sie nahm das Mädchen hoch und nun setzte mein Herz ein paar Schläge aus.

»Ist sie nicht süß?«

»Doch sehr niedlich«, bestätigte mein Kumpel. Das Kind war so hübsch mit Grübchen in den Wangen und Engelslöckchen. Es streckte die speckige Hand aus: »Baba!«

»Ach, Dummerchen! Hier gibt es doch keine Männer. Höchstens Nezar und der sucht seine Tochter, hörte ich.« Ylli lachte.

Nou-Nou drehte sich um: »Shahir, Zeda! Lasst uns gehen!«

»Dürften wir Sam etwas Gesellschaft leisten?«, bat Coyote. Ich wusste nicht warum. Ich erwachte langsam aus meiner Versteinerung.

»Wenn Sam nichts dagegen hat.« Sie sah Ylli an.

»Nein, ich bin froh über Hilfe. Meine Kollegin liegt in den Wehen.«

»Nun, denn!«

Nou-Nou verließ das Schlafzimmer und kaum hatte sie die Tür geschlossen, fiel Yllisam mir um den Hals. Sie küsste mich durch den Schleier auf die Wange. »Was machst du denn hier? Das ist doch viel zu gefährlich und dann dieser Aufzug!« Sie zog an der Pumphose.

»Das ist, das ist...jetzt egal!«, ich umarmte sie und weinte.

Sie hob das Kleinkind hoch: »Sie heißt Sandrin, nach dir!«

»Ich nickte, wir müssen abhauen! Ich war sozusagen dabei, als Prinzessin Muna verschwand...«

»Wie sozusagen? Erzähl mal!« Eines der Kinder quengelte und meine Schwester setzte sich in eine Ecke auf ein Sitzkissen und stillte es. Sie summte ein Wiegenlied.

»Hier sind auch Fläschchen vorbereitet!« Weil wir es versprochen hatten und weil die Geschichte lang war, schnappte ich mir ein Kind, das gerade wach geworden war und gab ihm Milch aus einer Flasche, die in einer Schüssel unter Tüchern warmgehalten worden war. Coyote tat es mir nach. Und so saßen wir in dem abgedunkelten Raum und redeten. Yllisam summte weiter und es erinnerte mich an die Zeit, als ich ein kleines Kind gewesen bin und wir mit dem Karren über Land zogen. Ich hörte die Regentropfen auf dem Wagendach und ich roch die nassen Pferde und die feuchte Wiese, da fiel es mir gar nicht auf, wie müde ich eigentlich war. Das Kind in meinem Arm nuckelte gleichmäßig an der Flasche und ich drückte mich tiefer und tiefer ins Kissen.


Da war ich wieder in meiner jüngeren Vergangenheit, damals als ich Shark verletzt hatte, angekommen und in der Zelle, als ich wusste, ich würde bald meine Strafe dafür erhalten.

Warten ist eigentlich die schlimmste Folter überhaupt. Warten auf das, was kommt und man wusste, was kommen würde, war unbeschreiblich grausam. Ich starrte an die helle Wand der Zelle. An 345 Stellen war der Putz abgepröckelt und ich hatte sie alle berührt. Die Sonne zeichnete die Schatten der Stäbe auf den Boden.

Ich war darüber gesprungen, aber das war gestern gewesen oder vorgestern. Ich wusste es nicht mehr. Ich zog die Beine an und spielte mit einem Stock mit einem Käfer. Ich dachte an Nezar.

Das Arschloch ließ sich Zeit, aber nun gut. Er hatte vielleicht Besseres zu tun, wahrscheinlich musste er wichtigere Leute als mich umbringen. Der Käfer hatte einen schwarzen Panzer und wenn die Sonne auf ihn schien, schimmerte er blau. Er krabbelte auf das Stöckchen zu und ich schubste ihn und er fiel um. Ich sah ihm zu, wie er mit seinen Beinchen in der Luft zappelte und überlegte, ob ich ihn aufspießen sollte. Ich legte den Kopf auf die Knie und mir kamen die Tränen. Es tat mir alles leid. Mit Hit das tat mir leid, er war mein Freund gewesen... Es tat mir sogar leid, dass ich Shark verletzt hatte. Ich fragte mich, ob einer wie Nezar Mitleid kannte.

Wahrscheinlich eher nicht. Kannte er Reue? Wohl eher nur von anderen.

Ich sah aus dem Augenwinkel, wie der Käfer weiterkrabbelte. Ich war wütend und stand auf. Mein Schatten fiel auf das Insekt und mein Fuß war über ihm.

»Hey!«, rief eine heisere Stimme. Ich fuhr herum. Am Gitter stand ein dürrer, in Lumpen gehüllter, alter Mann.

»Eradi sei mit dir! Sie ist gnädig und schützt alles Leben!«

»Und mit dir, Bruder!« Ich ging langsam zum Gitter, die Sonne stand tief, der Alte hatte seine Finger durch die Stäbe gesteckt und ich verspürte den Drang sie anzufassen. Als ich sie berührte, war es wie ein Stromschlag und in meinem Kopf hatte ich die Bilder von meinen Eltern, von den Pferden, dem Wagen und der Freiheit. Der Alte hob den Kopf und ich sah, dass er trübe Augen hatte. In diesem Moment wusste ich, er hatte es ebenfalls gesehen.

»Hast du Unrecht getan, Junge?« Ich überlegte ernsthaft.

»Nein, die anderen.«

»Ja, ich sehe das auch so. Ich bin Duz!«

»Ich habe Angst, Duz!«

»Ich weiß, wir haben alle ab und zu Angst, das heißt nicht, das wir Angsthasen sind.« Er nahm meine Hand durch das Gitter und fuhr

mit seinen Fingerspitzen die Linien nach.

Das kribbelte und machte mein Herz leichter.

»Was heißt es dann, alter Mann?«

»Es heißt, dass wir Menschen sind.«

»Aber du siehst mich gar nicht.«

»Ich sehe nicht das, was die andere sehen, doch ich sehe all das, was sie nicht sehen. Kennst du die Geschichte von dem Riesen, der über den kleinen Stein fällt?«

»Nein, gab ich zu.« Niemand hatte sich hier in Babel die Zeit genommen, uns Geschichten zu erzählen und an die meiner Mutter hatte ich keine Erinnerung. Meine Mutter selbst war für mich wie ein Geruch, der längst vergangen war. Als ich wieder aufsah, war Duz fort und der Himmel leuchtete knallrot wie ein Kamin.

»Duz, wo bist du? Lass mich nicht allein, bitte!« Doch er blieb verschwunden.

Aber der launige Wüstenwind wehte mir ein paar Worte zu.

»Bleib unverzagt! Du bist der Stein!«

»Schlaf, Sandro!«, raunte jemand. Die Krallen des Traumes hielten mich gefangen und ich konnte ihnen nicht entgehen.

Sie holten mich. Zwei Wächter, ich kannte sie nicht.

Meine Hände waren auf den Rücken gefesselt und sie schleiften mich an den Ellbogen mit sich. Die Fesseln wären gar nicht nötig gewesen, denn die beiden waren solche Urviecher mit Nacken wie Stiere unter ihren Helmen.

Ich dachte natürlich, dass es nun aus sei und Shark sich an mir rächen würde. Das Schlimmste wäre aber, alle würden zusehen.

Sie schleppten mich in den Turm, wir fuhren im Aufzug sehr hoch. Ganz oben, wo die Wände rot und die Möbel golden waren, betraten wir einen runden Raum.

»Ach du Scheiße, das war Nezars Thronsaal!«

Ich sah die Urviecher an.

»Wohin bringt ihr mich?«

»Das Frettchen redet zu mir«, sagte der Kerl zu meiner Linken.

Der Rechte lachte: »Sag ihm, wir verstehen die Sprache der Gosse nicht!«

Sie schleiften mich weiter über einen prachtvollen Teppich, unter mir zog ein wunderschönes Muster wie eine Geschichte dahin.

Hier waren viele Leute, ich getraute nicht, sie anzusehen, aber ich spürte ihren Blick.

Sie warfen mich hin wie einen Sack Kartoffeln.

»Keinen Mucks!«

Für wie doof hielten sie mich? Ich konnte zwar nicht lesen, aber so total lebensmüde, hier auch nur zu atmen, konnte ja niemand in meiner Situation sein.

»Herr!«, murmelte der linke Wächter.

Manche Leute haben eine tiefe Stimme, andere eine hohe. Nezars Stimme war einschneidend wie ein Teppichmesser. Sie war markant, sie traf den Punkt und man konnte sie nie mehr vergessen.

»Ah, der Junge!«, stellte Nezar fest.

»Nun so schüchtern? Ich hörte, du hast einen meiner Männer verletzt. Ist das wahr?«

Meine Augen waren wie mein Mund geschlossen.

Mein Hals war zu eng.

»Antworte!«

Einer der Wächter gab mir einen Schubs.

»Ja, Herr!«

»Ja Herr, was?«

Plötzlich bekam ich eine unbändige Wut und erinnerte mich an den Tag, als dieses Scheusal, das hier viel zu viel Macht hatte, mir meine Familie nahm. Mit der Wut kehrte die Kraft zurück und ich stand auf. Ich sah zuerst in viele erstaunte Gesichter des Hofes, dann in Nezars.

»Ja Herr, es ist wahr! Er hat mich gedemütigt und provoziert und da habe ich ihn geschlagen.«

Der Fürst zwinkerte kaum merklich, er rieb sich sein schmales Kinn:

»Groß bist du geworden! Nun, heute ist dein Glückstag!

Du kannst reiten, hörte ich!«

»Ja, Herr!«

»Und bist du gut?«

»Ja, Herr!«

»Dann habe ich einen Auftrag für dich. Ich habe dich von einem Freund empfohlen bekommen. Er braucht einen zweiten Mann und hat sich für dich entschieden. Denn ich schicke zwei Späher nach Ost-Zalem, um zu sehen, ob die Brücke am Pass für meine Soldaten passierbar ist.«

Ich konnte es nicht fassen, mein Blick hellte sich auf.

Aber wer sollte das eingefädelt haben?

»Ich? Wer?«

Da trat Hit hinter einigen Zuschauern in die erste Reihe. Er grinste mich aus seinem schwarzen Gesicht mit weißen Zähnen an.

»Hit hat dich ausgesucht, er ist dein Befehlshaber. Und Sandro...«, ich stutzte, Nezar kannte meinen Namen, »lass dir nicht einfallen, abzuhauen! Denk an deine Schwester!«

Ich hatte Yllis Gesicht vor Augen und senkte den Blick. Ich fiel wieder auf die Knie: »Sicher! Ich werde Euch nicht enttäuschen!«

Continue Reading

You'll Also Like

2.4M 75.9K 66
Bei Dark Race jagen fünf Jungs ein Mädchen bei Nacht durch den Wald. Wenn sie zuerst zurück zum Lagerfeuer findet, hat sie gewonnen, aber wenn einer...
9K 853 54
𝗦𝗵𝗲 𝗳𝗲𝗹𝗹 𝗳𝗶𝗿𝘀𝘁, 𝗯𝘂𝘁 𝗵𝗲 𝗳𝗲𝗹𝗹 𝗵𝗮𝗿𝗱𝗲𝗿 - 𝗦𝘁𝗼𝗿𝘆 Haus / Straße / Haus - Balkon / Straße / Balkon Die Beziehung zwischen Ke...
Machoboy By rabeey5

Teen Fiction

1.4M 33.9K 100
Er war neu aus dem Knast raus und etwas anders. Nicht so wie jeder sondern voller Geheimnisse. Etwas wie ein Psycho, doch heisst das das ich Angst ha...
1.5M 39.7K 90
"Ich will dich doch überhaupt nicht heiraten." flüsterte ich leise und sah in sein Gesicht, dass nur wenige Zentimeter entfernt von meinem war. "Und...