Teil 1 - 4

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Zur Sicherheit rückte er seinen Revolver zurecht, kniete sich neben dem Buch nieder, zog sich einen Handschuh aus dünnem, weinroten Stoff an (man konnte ja nie wissen, ob das Fundstück nicht mit Schlangengift bestrichen war) und hob es auf.
Es war ein einfaches, in braunes Samt gebundenes Tagebuch, auf dessen Buchdeckel die Worte „Logbook of Sarah Hewitt" geschrieben waren.
Seltsam. War das der Name der fremden Frau? Und wenn ja, warum hatte sie dann ihr Tagebuch als Logbuch bezeichnet, wie es eigentlich nur Schiffskapitäne taten?
Kurz spielte er mit dem Gedanken, einen Blick in die Lektüre zu werfen, doch sein Ehrenkodex siegte über seine Neugier. Es wäre nicht richtig gewesen, jetzt in fremder Leute Sachen herumzuschnüffeln. Vielleicht später.
Er steckte das Buch in seine schwere Satteltasche, und sah sich den Boden genauer an. Es waren keinerlei Huf- oder Räderspuren zu sehen, was aber in Anbetracht des festen, trockenen Bodens auch kein Wunder war.
Also keine Spuren. Frustriert presste Will die Lippen zusammen. Dann hieß es wohl auf gut Glück die Gegend durchstreifen.
Gerade schwang er sich wieder in den Sattel, da hörte er etwas, was ihn zugleich erfreute, erschreckte, und ihn zusammenzucken ließ;
Pistolenschüsse und lautes Geschrei.
Sie kamen von ganz in der Nähe, hinter einem großen Hügel.
Will handelte blitzschnell, angetrieben vom Adrenalin in seinen Adern.
Sofort sprang er von Ladonna ab, band sie in Windeseile an einem toten Baum fest, zückte den Colt und ging gebückt zu der Stelle auf dem Hügel, von der die Geräusche kamen.
Er hatte erwartet, einen Raubüberfall oder eine ähnlich grässliche Szene vorzufinden, doch stattdessen sah er von der Anhöhe, auf die er gekrochen war, ein vollkommen anderes Schauspiel.
Einige Meter unter ihm loderte ein knisterndes Lagerfeuer, welches die Szenerie in ein flackerndes Orange tauchte. Um das Feuer saßen zwei Personen auf Holztruhen, die breite Sombreros trugen, und, ihrem lautstarken Verhalten und den leeren Flaschen neben ihnen nach zu urteilen, sturzbesoffen waren, wobei der Größere der beiden definitiv mehr intus hatte als der Kleinere.
Anscheinend hatte es sich nicht um Geschrei, sondern um lautstarkes Gelächter gehandelt.
Will war sich sicher, dass das die Winston Brüder waren, von denen er schon so viel gehört hatte.
Er hatte eine perfekte Position, die beiden waren abgefüllt bis zum geht nicht mehr, und er hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite.
Und doch zögerte er. Wusste er denn wirklich mit hundertprozentiger Sicherheit, dass das die Winstons waren? Was, wenn die beiden in Wirklichkeit nur zwei stark alkoholisierte Reisende waren, die zufälligerweise genau vor Crimson Rock kampierten?
Die Wahrscheinlichkeit war sehr gering, doch er konnte sie trotzdem nicht ignorieren. Was, wenn er am Ende zwei harmlose Zivilisten auf dem Gewissen hatte?
Dazu kam noch die Tatsache, dass ein Mord an zwei besoffenen Outlaws aus dem Hinterhalt ziemlich niederträchtig, und streng genommen gegen das Gesetz und seinen Ehrenkodex gewesen wäre.
Und so kam es, dass Will Becks an diesem Abend, wahrscheinlich mit, durch den Rauch des Lagerfeuers benebelten Sinnen, eine sehr dumme Entscheidung traf:
Er sah sich nach einer Stelle um, an der der Hügel weniger steil abfiel, fand sie zu seiner Rechten, und beschritt sie mit enormen Herzklopfen.
Als er unten angekommen war, sagte er mit ruhigem Ton: „Ein herrlicher Abend für ein Lagerfeuer, nicht wahr?"
Der Größere wirbelte sofort herum, wobei er laut einen Fluch ausstieß, und griff unter seine Jacke.
Reflexartig, wie von einer Hornisse gestochen, sprang Will zur Seite, um den Kugeln auszuweichen.
Doch es kam nichts.
Will hob die Hutkrempe, und erkannte, dass der Betrunkene, nun zur vollen Größe aufgerichtet, verdutzt auf seine leere Hand starrte, in der er wahrscheinlich einen Revolver vermisste.
„Jimmy, ich hab dir deinen Colt gerade abgenommen", kam es von der, offensichtlich nüchternen, weiblichen Person, die neben ihm saß. Zwischen den behandschuhten Fingern ließ sie demonstrativ den Revolver kreiseln.
„Oh, stimmt ja.", der Mann wirkte immer noch verdattert. Doch dann wurden seine Gesichtszüge entschlossener, kniff seine Augenbrauen zusammen, und mit einer leicht zitternden Hand deutete er auf Will. „Aber was will die Ratte hier?"
„Jimmy, sei höflich zu dem Menschen. Er ist keine Ratte, sondern ein...", sie wandte sich an den, noch immer leicht geschockten Will, „wer sind sie denn?"
Will Becks wog blitzschnell die Möglichkeiten gegeneinander ab. Sollte er die Wahrheit sagen, oder seine Identität leugnen?
Zumindest stand schon einmal fest, dass er es hier nicht mit den Winstons zu tun hatte. Die waren schließlich beide Männer.
Trotzdem ging Sicherheit vor.
„Mein Name ist Peter Mitchell.", log er, „Ich bin hier grade zufällig vorbeigekommen, als ich Geschrei gehört hab, und da dachte ich mir, schau ich doch lieber mal vorbei, nicht dass hier noch einer erschlagen wird oder so etwas!"
Will lachte über seinen Witz, um seine Unsicherheit zu kaschieren.
Die Frau runzelte kurz die Stirn, dann entspannten sich ihre Züge und sie lehnte sich zurück, wobei sie sich auf der Kiste abstützte.
„Aber nein, das war nur mein Partner, Jim. Manchmal gehen mit ihm etwas die Pferde durch, wenn er zu viel trinkt, aber sonst ist er ein ganz lieber Kerl. Stimmt's, Jimmy?"
Jimmy grunzte nur, wobei er Will aus seinem dreckigen Gesicht feindselig anstarrte.
„Aber setzen sie sich doch zu uns."
Mit diesen Worte fischte sie einen Klappstuhl aus einem Haufen Gerümpel hinter ihr, aus dem unter anderem der Griff einer Bratpfanne, einige Flaschen unbekannten Inhalts und ein Sonnenschirm hervorragten, und platzierte ihn neben sich.
Es war schon kühl geworden, und das Lagerfeuer spendete verlockende Wärme; außerdem schien er nicht skrupellose Verbrecher vor sich zu haben, sondern zwei mehr oder weniger harmlose Reisende.
Vielleicht konnte er ihnen sogar wichtige Informationen zu den gesuchten Verbrechern entlocken.
Er ging zu den beiden, ließ sich auf die klapprige Sitzgelegenheit plumpsen, die dabei bedrohlich knirschte, und hielt seine frierenden Hände zum wohligen Feuer.
„Und, wie lautet ihr Name?", fragte Will seine Gastgeberin.
„Julia."
„Julia..."

WILL BECKS -- Und die Greenhorns von Crimson RockWhere stories live. Discover now