Epilog

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3 Monate nach Lucys Tod

Henry dachte, er habe die Person gefunden, mit der er sein restliches Leben verbringen würde, doch da irrte er sich gewaltig. Oder war Lucy einfach die falsche Person? Man konnte nie wissen, wann man einen Menschen das letzte Mal sah.

Seit drei Monaten kam Henry jede Nacht an Lucys Grab, sprach mit ihr. Mal länger, mal kürzer. Doch immer mit einer gewaltigen Schuld.

So wie diese Nacht.

Er saß auf einer kleinen Bank unter einem Baum. Diesmal war auch Ray dabei, der neben Henry Platz genommen hatte. «Ich vermisse sie so sehr», flüsterte Henry, «dass ich nicht mehr weiß, was ich mit meinem Leben anstellen soll. Ich kann zwar so tun, als wäre alles okay, aber das ist es nicht im Geringsten.» Ray strich Henry sanft mit seiner Hand über den Rücken. Er war für ihn da, wie kein anderer. «Weißt du Ray, dass Leben verlangt von uns, dass wir Sachen wegstecken für die wir gar keine Taschen haben», meinte er belustigt, obwohl ihm kein bisschen zum Lachen zumute war. Nein, stattdessen brannten ihm Tränen in den Augen. Tränen, die sich durch diese Zeit angefühlt hatten, als wären sie ein Teil von ihm. Als wären sie das Tauschstück zu Lucy. 

«Ich weiß, Henry ... Ich weiß. Aber so ist es - das Leben. Nie leicht und fair, nur lang und kompliziert.» Henry kam einfach nicht damit zurecht, ihr schönes kantiges Gesicht, mit den grünen Augen, nie wieder zu sehen. Es schmerzte, worauf sich der Knoten in seinem Bauch nur noch mehr zusammenzog. 

«Henry? Es gibt da etwas, und ich denke, du bist jetzt so weit, dass du es bekommst. Ich habe den richtigen Augenblick abgewartet, um dir das hier zu geben.» Ray gab Henry eine gefaltetes Blatt Papier in die Hand. Der Junge wischte sich seine Tränen weg und für einen Moment sah es so aus, als wäre ein Lächeln auf seinen Lippen. «Ist ... Ist es möglich, dass er von ... ihr ... Lucy ist?», murmelte er ungläubig und nahm ihm den Brief ab. Ray nickte und sagte: «Ich lass dich allein. Es wird Zeit, dass du Abschied nimmst.» Er ging und man sah nur noch seine Silhouette am Rande des Friedhofs. Henry strich sachte über den Brief, hielt inne und ließ sich ordentlich Zeit, bevor er ihn las.

Lieber Henry,

Wenn du diesen Brief hier liest, ist es sehr wahrscheinlich, dass ich Tod bin. Du bist ein Superheld, da ist es klar, dass deine Welt gefährlich ist. Ich wusste, dass ich irgendwann sterben würde, und habe für diesen Moment, den Brief hier geschrieben. 

Erinnerst du dich an unsere erste Begegnung? Als ich aus Versehen auf dem Jungsklo war? Wir stießen aneinander und da sah ich dich. Und als du mich angesehen hast, da hat sich ein Teil von mir in dich verliebt. Mein ganzer Körper hat in diesem Moment gekribbelt.

Ich wusste, dass ich mein restliches Leben an deiner Seite verbringen würde. Und so tat ich es auch. Ich wäre dir bis ans Ende der Welt gefolgt, Henry. 

Trauere mir nicht zu lange nach. Verliebe dich irgendwann wieder, denn Liebe ist so unbeschreiblich schön. Danke, dass ich das genauso unbeschreiblich schön erleben durfte.         Mit dir.              

 Ich habe keine Angst zu sterben, obwohl ich so jung bin. Meine Welt liegt in einem Schein, der mich nur noch selbstloser und verliebter handeln lässt. Total schnulzig, aber ich finde keine Erklärung für mein Denken, und ich weiß, dass du es mir niemals verzeihen wirst. Aber in meiner Handlung liegt auch eine Entschuldigung.

 Eine letzte Bitte: Sag Charlotte, dass sie mir eine gute Freundin war. Ich bin ihr dankbar für alles, was sie für mich getan hat. Und sag Jasper, er soll bloß gut auf seine Eimer aufpassen. Nicht zu vergessen, habe ich ihm auch mal einen geschenkt. Sag ihm auch, dass er nie etwas falsch gemacht hat. Er konnte nichts dafür. Seine Taten sind schon lange vergeben. 

Henry machte eine Pause beim Lesen.

 Es war ihm alles zu viel, wie sie starb, dass sie starb und jetzt der Brief, der alles wieder an die Oberfläche brachte, was er verdrängt hatte. 

Er konnte nicht so tun, als hätte sie nie existiert.          

Henry schluchzte und Tränen quollen nur so hervor, aber er weinte für sie, und dann war es in Ordnung. Er musste für einen Moment leicht grinsen, denn er wusste, dass Lucy es ernst meinte. Sie war die Einzige, die Jaspers Eimer akzeptiert hatte und es als etwas völlig Normales angesehen hatte. Das liebte er so an ihr. Lucy akzeptierte jeden so, wie er war. Sie war immer Humorvoll und liebenswert zugleich, aber genauso stark. Sie war still, aber es fiel auf, sobald sie fehlte, denn ihre Abwesenheit schien mehr als nur zu schreien. «Ich vermisse dich so sehr», schluchzte er vor sich hin und übertraf damit die Geräusche des Friedhofes.

Die Grillen, die zirpten, wurden still.

Der Wind, der vor her noch so stark wehte, wurde still.

Alles wurde still.

Das Mondlicht erhellte Henrys Gesicht und spiegelte sich dort wider. Ein besonders kräftig leuchtender Stern am Horizont strahlte auf die Erde hinab und erinnerte ihn an Lucy. An ihre Augen. Henry wischte sich erneut seine Tränen weg und nahm einen tiefen Atemzug. Schließlich öffnete er den Brief und las stumm weiter.

Ich bitte euch alle. Vergesst mich bitte nie. 

Henry, all unsere Gemeinsamen Erinnerungen, die wie in einem Märchen - und du der dazugehörige Prinz - waren. Sag mir, dass du sie niemals vergessen wirst. Versprich es einfach stumm.

Ich bereue nichts, was ich gesagt oder getan habe. Es war echt. Lebendig und einzigartig. 

Ich liebe dich, Henry Hart. Es tut mir leid, dass ich es nie gesagt habe. Vielleicht verzeihst du mir das eher als meinen Tod.

In unsterblicher Liebe, 

Deine Lucy Hale.

Der Brief war kaum noch lesbar, durch Henrys Tränen verwischte die Tinte. Er wischte sich die Tränen erneut fort, faltete den Brief zusammen und stand auf. 

Er sah zu dem hell leuchtenden Stern hinauf und sagte: «Ich könnte dich nie vergessen. Deine Liebe ist wirklich untersterblich. Ich fühle sie jeden Tag in meinem Herzen, genau da, wo du auch bist.» 

Ray der am Ausgang des Friedhofs stand, umarmte ihn und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. «Das war noch lange nicht das Ende. Es war das Ende vor einem Neuanfang», lächelte Ray und beide Körper verschwanden. Lucys glitzernd erscheinende Silhouette blickte ihnen hoffnungsvoll hinterher. Bis auch sie verschwand und es dunkel wurde. Der Wind wehte wieder und die Grillen erwachten erneut zum Leben. Das Leben ging weiter. Es stand niemals - und die Zeit, sie raste in Sekundenschnelle an einem vorbei, ob man mitkam oder nicht war dabei völlig egal. 

𝗔𝗟𝗦 𝗜𝗖𝗛 𝗗𝗜𝗖𝗛 𝗦𝗔𝗛 - 𝙃𝙀𝙉𝙍𝙔 𝘿𝘼𝙉𝙂𝙀𝙍 𝙁𝙁Where stories live. Discover now