Ich bin bei dir 3.0

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Henry

Es gingen Tage und Nächte ins Land und wir saßen immer noch hier. Ich machte kaum ein Auge zu, weil ich nicht traute, was er als nächstes tat. Wer weiß, was der immerhin Typ alles angestellt hätte, wenn ich mal kurz nicht hinsehen würde. 

Meinen Eltern und Piper ging es schlechter. Piper hatte aufgehört zu weinen und starrte mit leeren, verlorenen Augen vor sich geradeaus ins Nichts. Meine Eltern benahmen sich nicht gerade anders. Sie wirkten alle verloren. Wenn ich doch nur wüsste, was er ihnen angetan hat, als ich noch nicht hier war. 

Ich beschloss mich eines Tages für all das hier - und die damals verschwundenen Kinder - zu rächen, selbst wenn es das letzte wäre, was ich tun würde.

 Der Mann im schwarzen Mantel nahm sein Skalpell aus dem silbernen Koffer und kniete sich vor mich nieder. «So, Henry, fangen wir an. Zur Aufklärung: Ich werde dir jetzt an der Stelle, wo später die Spritze hinkommt, einen kleinen Schnitt machen.» Ich schaute ihn kaum an und wenn, dann setzte ich den hasserfülltesten Blick auf, den ich besaß.

«Keine Angst, es wird nicht weh tun. Zu sterben ist friedlich.» Seine Stimme hörte sich plötzlich so sanft und vertrauensvoll an, dass mich schwindelig wurde.

Ich sah ihn genau an. «Glauben Sie mir, für meine Familie zu sterben, ist das Beste, was ich je tun könnte. Ich würde für sie alles tun, egal was.» Meine Stimme versagte bei den letzten Worten und mir entwich eine winzige Träne, während ich Piper ansah. Sie sah aus als wäre sie für immer verloren. 

«Oh glaub du mir, dass ich das weiß. Vergiss nicht, ich kenne dich besser als du selbst.» Er lachte. Fand er es so witzig, dass ich mich selbst nicht wirklich kannte? Ich wusste nur, dass ich manchmal unfassbar viele Fragen hatte, Fragen, die ich nicht aussprechen konnte, weil es keine Worte dafür gab. 

Falls ich heute wirklich sterben würde, fände ich es nicht wirklich schlimm. Immerhin würde ich sterben, um ein anderes Leben zu retten. Und in diesem Fall wären es sogar drei.

«Dann fangen Sie doch endlich an, Sie Mistkerl!», schrie ich mit vollster Verachtung und funkelte ihn an. In seinen Augen erkannte ich nichts. Als würde ich in seine Seele sehen, aber feststellen, dass er die, wo er hatte, verkauft hatte. 

Mir schmerzten meine Finger unter dem Seil, durch meinen vergeblichen Fluchtausbruch. Im Endeffekt hatte ich nur mir selbst wehgetan. Unfähig zum fliehen war ich also auch noch.

«Ruhig bleiben», wies er mich an. «Ich kann auch ganz anders und dann würdest du dir wünschen, dass du das niemals gesagt hättest.» Er mir fast ins Gesicht. 

Seinen Griff um das Skalpell in seiner rechten Hand festigte er und drückte meinen Kopf zur Seite. Ich spürte die kalte Klinge an meinem Hals, bis er drückte und das warme Blut nur so hinunterfloss. Innerlich hoffte ich, dass er so dumm war und eine Halsschlagader getroffen hatte, damit es ganz schnell ein Ende mit mir fand. 

Ich starrte vor mich auf den Boden, unfähig in die Richtung von Piper oder meinen Eltern sehen zu können, da ich es nicht übers Herz brachte, sie erneut weinen zu sehen.

«Schritt eins wäre erledigt.» Er stand auf und machte tatsächlich einen Strich auf einem Stück Papier. Zumindest war er organisiert und kein Hektiker. 

Nun griff er nach einer langen Spritze, die eine grüne Substanz beinhaltete. Mit einem Lächeln stolzierte er zurück zu mir und jagte ohne weitere Vorwarnung die Spritze in meinen Hals.  Genau - wie er gesagt hatte - an die Stelle, wo mir das Blut hinunterfloss. 

Er drückte den Kolben der Spritz hinunter, damit sich die grüne Substanz mit meinem Blut vermischen konnte. Mir tanzten immer mehr Schwarze Punkte vor meinen Augen herum. Schlussendlich hörte ich nur noch die besorgten Stimmen meiner Familie, bis auch die ausklangen und es unglaublich still wurde.

Ich sah die ganze Zeit über ein helles Licht, erkannte Verwandte, die alle tot waren. Sie saßen auf Bänken und unterhielten sich. Ganz am Ende sah ich eine Frau, die ungefähr im Alter meiner Mutter sein musste. Nur hatte ich sie noch nie zuvor gesehen. Und ich war mir mehr als sicher, dass sie keine Verwandte war. Wenn ich also hier in meinem ganz persönlichen Himmel war, musste ich in einer Verbindung zu ihr stehen.

Als ich an meinen Verwandten - einige, die ich noch nie getroffen hatte, weil sie lange vor meiner Zeit gestorben waren - sahen mich an. Solange, bis mich alle ansehen und sich danach flüsternd weiterunterhielten. Als wären sie erstaunt, dass ich gestorben wäre. 

Neben der Frau setzte ich mich hin. Sie hielt ein Buch in den Händen, sah aber nur stur geradeaus. Niemand von uns sagte etwas. Ich fragte sie schließlich, wie sie hieß. Endlich sah sie mich an. Und als sie ihren Mund öffnen wollte, spürte ich nur, wie ich fiel, und dass erneut alles schwarz wurde. Das durfte nicht sein! Ich würde wohl nie erfahren, wer sie war. 

𝗔𝗟𝗦 𝗜𝗖𝗛 𝗗𝗜𝗖𝗛 𝗦𝗔𝗛 - 𝙃𝙀𝙉𝙍𝙔 𝘿𝘼𝙉𝙂𝙀𝙍 𝙁𝙁Where stories live. Discover now