15. Was weißt du?

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Lucy

Ausgeschlafen und mit einem Lächeln auf den Lippen - durch die Erinnerung an den vergangenen Tag - erwachte ich von meinem Traum, welcher wiederum beängstigend war. Ich erinnerte mich noch an einen Mann mit einer Pistole, doch was er sagte oder wie er aussah, geschweige denn, wer noch dabei war, war fort. 

Gähnend vor Müdigkeit richtete ich mein Bett und zog mir flink etwas an. Ich fragte mich, ob Henry wach war und schaute darauf aus dem Fenster. Er saß auf seinem Sofa, Frühstückte aus einer Schale Müsli und versteifte seinen Blick auf einen Vogel im Baum. Durch puren Zufall sah er jetzt in meine Richtung, und ich winkte ihm. War es wirklich nur Zufall, dass wir im selben Moment aneinander dachten? Wenn ich davon ausgehen konnte, dass er es tat. Mit seinen Lippen formte er ein 'Guten Morgen', wie ich erahnte, bevor sich Henry wieder seinem Müsli widmete. 

Ich lächelte.

So startete man doch gerne in den Tag, oder nicht? 

Die Holzstufen der Treppe knarrten, als ich sie hastig hinunterrannte. Dad, der bereits mit seinem Kaffee - wie immer - am Küchentisch saß, wünschte mir ebenfalls einen Guten Morgen. Ich zog den Stuhl zurück, worauf es ein schreckliches Geräusch gab, was mir in den Ohren wehtat und setzte mich. 

Dad sah mich forschend an und seufzte schließlich, als er das Wort ergriff. «Du hast ja erzählt, dass du diesen Henry datest», begann er.

«Ja was ist damit?» Ich hob eine Augenbraue und machte mich darauf gefasst, was er sagte.

«Ich denke, er hat Geheimnisse. Und zwar solche Geheimnisse die ziemlich ... ziemlich unnormal sind. Aber vor allem schmerzhafte. Weißt du da was drüber? Es machen viele Gerüchte ihren Umlauf und ich denke, da ist was Wahres dran.» Ich schwieg eine Weile und sah ihn einfach nur an. 

«Was ich damit sagen will, ist, dass ich nicht will, dass er dich verletzt, wenn er dich da mit reinzieht», erklärte Dad und langte über den Tisch zu meiner Hand, welche er umgriff und zärtlich drückte.

«Nicht, dass ich wüsste. Sind ja schließlich Geheimnisse.» Ich trank eilig einen Schluck, um das Beben in meiner Stimme zu verdrängen.

«Mir gefällt das einfach nicht. Versteh doch!» Seine Stimme wurde immer lauter und er stand von seinem Stuhl auf. So kannte ich ihn überhaupt nicht. Er hatte mich noch nie so derartig angeschrien.

«Hör zu: Es mag dir vielleicht nicht gefallen - aber es ist mein Leben. Nicht deins, nicht Henrys, nicht das von irgendjemandem! Also entscheide ich. Ich allein», verklickerte ich ihm und ließ mich von der Welle des Zorns mitreißen. 

«Ich bin dein Vater und du lebst hier unter meinem Dach, stellst deine Füße unter meinen Tisch und isst essen, was ich mit meinem Geld bezahlt habe, dass ich teuer erarbeitet habe. Du machst ja nichts! Also, wenn ich sage, dass ich will, dass du dich von diesem Henry fernhältst, dann tust du das gefälligst auch», schrie er und schlug mit seiner Hand auf den Tisch. 

Stumm starrte ich ihn an und verzog meine Lippen zu einem kalten Ausdruck. «Okay, wie auch immer du willst ... wie auch immer du willst, Dad», sagte ich schließlich gelassen. Was Dad nicht sah, konnte er nicht wissen. Das hieß, ab jetzt musste ich meine Treffen mit Henry wohl vorerst verschieben. Und zwar sobald es dunkel wurde.

So wie diese Nacht.

Ich wartete, bis ich sich die Ruhe der Nacht in unserem Haus mit Dads Schnarchen füllte und mir versicherte, dass er schlief. Vorsichtig öffnete ich mein Fenster, stieg hinaus, zog es nach mir zu und blickte auf den Abgrund unter mir.
Du schaffst das, es ist zwar tief, aber du wirst es überleben, flüsterte die Stimme in meinem Inneren worauf ich nicht wusste, ob ich Angst haben sollte. Ich riss mich zusammen, spielte die Höhe etwas runter und sprang schließlich, bevor ich mich nicht mehr hätte halten können. Mit einem Blick auf mein Fenster, aus dem kein Licht heraus schien, und das immer noch bestehende schnarchen klang, atmete ich beruhigt durch.

Es hatte funktioniert, es hatte tatsächlich funktioniert! Vor Stolz grinste ich in die Nacht hinein.

 Der Himmel erschien wie ein schwarzes Loch. Es gab keinen einzigen Stern. Der Wind wehte mir eine kühle Sommernacht Brise entgegen, worauf sich meine Arm haare reflexartig aufstellten.

 Ich schlich sachte weiter, ohne irgendwo hinüber zu stolpern. In der Hocke und mit meiner rechten Hand, suchte ich am Boden nach einem kleinen Steinchen oder einer Eichel. Mir rutschte eine Eichel in die Finger, drückte sie fest in meiner Hand und warf sie auf Henrys Fensterscheibe. Es ertönte ein dumpfer Aufprall, mehr jedoch nicht. Kein Licht, keine Geräusche im Haus, nichts. Diesmal ertastete ich einen kleinen Stein, der ein klickendes, lauteres Geräusch - beim Aufprall mit dem Fenster - von sich gab. 

Wieder nichts. 

Knack. 

Ich zuckte zusammen. 

Was zum Teufel war das? Ein Tier? Dad vielleicht? Ein möglicher Stalker? Mein Herz schlug mir bis zum Hals Oder war es womöglich der Herrscher des Bösen von dem Henry mir erzählt hatte? 

Es knackte erneut. Diesmal direkt hinter mir. Mein deutlich rasender Herzschlag verriet mir, dass ich Angst hatte. 

Ich wirbelte herum und flüsterte: «Hallo?»

Ich ging ein paar Schritte rückwärts, weg von dem Geräusch. 

Herzschläge lang war es ruhig, bis es wieder knackte, diesmal noch näher und noch lauter. Ich spürte etwas an meinen nackten Knöcheln und darüber. Es war weich und sanft, zu weich und zu sanft, um böses zu wollen. Ich bückte mich und streichelte darüber, worauf das Etwas miaute. 

Es war eine Katze. 

Natürlich. Nur eine Katze, die auf die Jagd ging. 

Kein Grund zur Sorge. 

Erleichtert atmete ich auf. Das helle Licht von Henrys Zimmer zog meine Aufmerksamkeit zurück zur der Sache, warum ich hier draußen, mitten in der Nacht, im dunklen ohne irgendetwas stand. Henry öffnete sein Fenster. «Lucy? Was machst du hier? Ist irgendetwas passiert?», fragte er mit verschlafener Stimme, tiefer Stimme. 

«Ich dachte nur gerade, dass es jetzt vorbei mit mir wäre und ich gleich umgebracht werde. Im Endeffekt war es eine Katze», säuselte ich sarkastisch. «Ich wollte nur zu dir, kann ich hier bei dir bleiben?», fragte ich schließlich.

Er nickte verständnisvoll. «Natürlich kannst du bleiben. Warte, ich mach dir die Haustür auf.» Henry schloss sein Fenster.

Ich lief auf die Veranda und trat hinein, ehe Henry mir die Tür öffnete. «Wir müssen den Weg bis zu meinem Zimmer leise sein.» Ich nickte und folgte ihm schweigend die Treppen hinauf, bis zu seiner Zimmertür. Er schloss nach sich die Tür und setzte sich auf sein Bett. «Komm setz dich zu mir, und erzähl, was dir auf dem Herzen liegt, meine Liebe», ermutigte er mich und klopfte neben sich aufs Bett.

Ich setzte mich zum ihm und fing an zu erzählen. Wie Dad mich anschrie, mich ausfragte und vor allem die Nähe zu Henry verbot. 

Ich schüttete ihm in dieser Nacht mein Herz aus. 

Ich erzählte auch von meinem Albtraum, meiner Angst. 

Henry, der sich in der zwischen Zeit hingelegt hatte, hörte aufmerksam zu und wartete bis ich erleichtert zur Ruhe kam. Der Stein, der mich den ganzen Tag über belastete fiel mit einem Mal von mir ab, war einfach weg. Doch durch den fehlenden Stein drohten mir meine Tränen auszubrechen. Dabei war mir gar nicht danach, zu weinen. Ich hatte - seit ich in Swellview war - so furchtbar viele Tränen vergossen, dass ich es fast übertrieben fand, zu weinen.

«Du kannst hierbleiben, wo du sicher bist. Es wird alles gut», versprach er mir. Ich legte mich hin und war plötzlich verlegen, da ich nicht wusste, wo ich mich hinlegen hätte sollen. Also quetschte ich mich an den Rand und flog daraufhin fast hinunter. «Du kannst zu mir rüber rutschen, wenn du willst», flüsterte er vor Müdigkeit und war ganz leise.

«Wäre das denn okay?», hakte ich nach. Förmlich konnte ich hören, wie er lächelte. «Mehr als nur okay», bestätigte er und zog mich sanft zu sich, legte einen Arm an meine Taille. Mein Kopf fand auf seiner Brust platz, wodurch ich seinen regelmäßigen Herzschlag hörte, der mir sagte, dass er schlief und sich in seiner Traumwelt eingefunden hatte. «Gute Nacht»
«'te Nach», brummelte Henry vor sich hin. Er drehte sich mit seinem Gesicht zu mir. Als ich die Augen schloss, spürte ich seinen warmen Atem in meinem Gesicht. Mein Herzschlag passte sich seinem an und ich hätte schwören können, dass sie nun synchron schlugen ...

𝗔𝗟𝗦 𝗜𝗖𝗛 𝗗𝗜𝗖𝗛 𝗦𝗔𝗛 - 𝙃𝙀𝙉𝙍𝙔 𝘿𝘼𝙉𝙂𝙀𝙍 𝙁𝙁Where stories live. Discover now