Dreizehn

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Es war ein seltsames Gefühl, sich zu wünschen, Cian Fitzergeralds Telefonnummer zu besitzen. Aber Eileen wollte sie aus einem anderen Grund als die meisten Mädchen an ihrer Schule.  Sie wollte ihm erzählen, was sie herausgefunden hatte und überlegen, wie sie den Rest dieser seltsamen Geschichte enträtseln konnten.
Sie wusste dank seiner Beschreibung zwar ungefähr, wo er wohnte, hatte aber nicht vor, dort aufzutauchen. Zumindest nicht, so lange sie er montags wieder in die Schule kam.
Auf gut Glück fuhr sie mit dem Rad wieder zum See.
Die Sonne schien warm auf den kleinen Steg. Seufzend ließ sie sich auf dem Holz nieder und schloss die Augen. 
Wann war ihr Leben so kompliziert geworden?
Ihr Handy unterbrach ihre Gedanken. 
Reed hatte ihr eine Nachricht geschickt.
Eine Einladung zu einer Party für seinen 18. Geburtstag.
Lächelnd sagte Eileen zu und ließ das Handy dann wieder in ihrem Rucksack verschwinden.
Zuletzt war sie in der Grundschule auf einer Geburtstagsparty gewesen.
Entweder war sie sonst niemand eingeladen gewesen oder hatte auf die Art von Partys, die viele in ihrer Klasse ab einem gewissen Alter gefeiert hatten, keine Lust gehabt. Zumal ihr von Alkohol schnell schlecht wurde.

Ein milder Windhauch fuhr durch die Blätter des Baumes neben dem Steg. Sie genoss das Rascheln und merkte, wie dieser Ort sie beruhigte.
Hier war es in Ordnung, auch mal nichts zu tun. Sich um nichts Sorgen zu machen.
Nicht zu denken.
Irgendwann öffnete sie die Augen wieder, ohne zu wissen, warum.
Sie hätte die Ruhe auch gerne länger genossen, aber irgendein Gefühl bewegte sie dazu, sich auf die Ellbogen zu stützen und sich umzusehen.
Eine Gestalt kam von den Hügeln, hinter denen angeblich das große Fitzgerald-Anwesen lag, auf den See zu. Sein helles Haar leuchtete beinahe in der Nachmittagssonne. Die Sporttasche lag locker über seiner Schulter. 
Er bemerkte Eileen und winkte ihr zu. 
Aus einem Reflex heraus winkte sie zurück und stellte erstaunt fest, dass sie lächelte.
Sie lächelte, weil sie Cian sah.
Sie suchte sich schnell einen anderen Gedanken.
Das Foto. Sie musste ihm das Foto zurückgeben.
Mehr um etwas zu tun zu haben, kramte sie in ihrem Rucksack nach dem Bild herum.
Sie hörte eines leises Platschen und wenige Sekunden darauf tauchte Cian aus dem Wasser an ihrem Steg auf.
Er war wohl auf der anderen Seite des kleinen Sees ins Wasser getaucht.
"Schön, dich zu sehen, Tiger. Hast du gute Neuigkeiten?"
"Ich hab doch gesagt, dass du mich nicht Tiger nennen sollst.", brummte Eileen und hoffte, dass er die Röte auf ihren Wangen nicht sah.
Sie legte sich auf den Bauch auf den Steg, damit sie sich gegenüber waren und sich besser unterhalten konnten, und legte ihm das Foto hin.
"Die Frau mit Baby ist tatsächlich meine Großmutter, Felicity. Das Baby meine Mum. Die Frau neben ihr ist meine Großtante. Aber meine Mutter kennt ihren Namen nicht. Sie hat der Familie wohl einige Probleme gemacht. Mehr weiß ich leider nicht."
"Du hast mir sehr geholfen. Danke... Eileen."
Überrascht sah sie hoch und stockte. Cian sah sie direkt an. Seine Augen leuchteten wieder in diesem seltsamen Blau, dass es unnatürlich wirkte. 
"Hast du Kontaktlinsen drin?", rutschte es ihr heraus. 
Amüsiert zogen sich seine Mundwinkel nach oben.
"Nein.", erwiderte er schmunzelnd. "Ich sehe einfach gut aus, selbst meine Iris ist einzigartig."
Schon war der faszinierende Moment vorbei.
"Ha ha. Wirklich witzig. Hast du meine Kette gefunden?"
Sein Ausdruck wurde wieder ernst.
"Noch nicht, aber ich suche weiter. Ich finde sie, versprochen."
Sie hätte ihm gerne geglaubt.
Er hatte, was er wollte.
Er müsste ihr nichts versprechen, wenn er es nicht ernst meinen würde. Aber sie glaubte einfach nicht, dass das Schmuckstück noch finden würde.
Es war wahrscheinlich längst unter dem Schlamm und Algen begraben. Traurig sah sie ihrem verschwommenen Spiegelbild auf dem Wasser entgegen.
Sie hätte so gerne selbst danach gesucht.
Nicht alles dafür zu tun, diese Kette wiederzubekommen, erschien ihr so falsch.
Ein Ziehen fuhr durch ihre Brust. Aber bei dem Gedanken, in die dunklen Tiefen einzutauchen. Schwerelos zu sein, den Kopf unter Wasser zu haben, vollkommen ohne Sauerstoff...
"Eileen!"
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und sie fuhr zusammen.
Erschrocken erwiderte sie Cians besorgten Blick.
"Du hast nicht mehr geatmet. Was ist los?"
"Nichts.", antwortete sie etwas
atemlos und setzte sich auf.
Cian hob sich aus dem Wasser und nahm neben ihr Platz.
Seine Nähe wirkte aufwühlend und beruhigend zugleich. 
"Willst du mir erzählen, was das mit dir und dem Wasser für eine Geschichte ist?"
"Nein."
Ja. Ja, wollte sie. 
Sie wollte mit jemandem darüber reden, der sie nicht mitleidig ansah. Und so sehr sie ihre Mutter liebte und mehr als gut verstand, warum das Thema auch für sie schrecklich war, wollte sie mit jemandem reden.
Jemandem sagen, wie sehr sie diese Angst hasste.
Wie gerne sie an heißen Sommertagen in kühle Fluten getaucht wäre. Wie gerne sie nach der Kette gesucht hätte.
Ihre Augen begannen zu brennen.
Sie versuchte noch, sich zusammenzureißen, aber es war, als würde ein Damm brechen.
Sie schluchzte und die Tränen liefen ihr frei über die Wangen.
Zu einem anderen Zeitpunkt wäre es ihr wie die größte Schwäche erschienen, ausgerechnet vor Cian zu weinen. Vor irgendjemandem zu weinen.
Aber nun war es ihr egal.
Es war ihr egal, wenn er allen in der Schule erzählte, dass sie vor ihm zu heulen begonnen hatte. Dass ihr Rotz und Wasser übers Gesicht geronnen waren.
All das war ihr egal. 
Zu ihrem Erstaunen machte er sich nicht über sie lustig.
Stattdessen legte er langsam, beinahe zögerlich, einen Arm um sie und zog sie leicht näher an sich.
Ohne daran zu denken, wer er war oder wofür er stand, ließ sie ihren Kopf auf seine Schulter sinken und weinte einfach weiter.
Er wartete geduldig und stumm, bis sie sich beruhigt hatte.
Seine Finger strichen sanft und besänftigend über ihren Arm. Schließlich griff zu ihrem Rucksack. 
Er kramte eine Packung Taschentücher heraus und reichte sie ihr. 
Leicht zitternd zog Eileen eins aus der Packung und schnäuzte sich so laut, dass es ebenfalls unangenehm hätte sein müssen.
War es jedoch nicht.
"Als ich zehn war, hatte ich in einem Schwimmbad einen Krampfanfall.", begann sie zu erzählen. "Ich bin untergegangen. Der Bademeister hat mich rechtzeitig rausgezogen und wiederbelebt. Aber seitdem bekomme ich bei dem Gedanken ans Schwimmen unfassbare Panik. Ich will ja dagegen ankämpfen. Ich würde gerne an meiner Angst arbeiten. Aber irgendwie..."
Sie stutzte, weil sie selbst nicht wusste, was sie abhielt. 
Sie sah zu Cian, wartete darauf, dass er etwas dazu sagte. Sie auslachte oder genauso mitleidig ansah wie alle anderen. 
"Soll ich dir dabei helfen?", fragte er plötzlich.
Eileen öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Es dauerte eine Weile, bis sie ein Wort herausbrachte.
"Meinst... du das ernst?"
Er zuckte mit den Schultern. 
"Warum sollte ich das nicht?"
"Weil du... weil... du hast dich über mich und meine Freunde lustig gemacht. Du bist anders, du bist..."
Er hob die Augenbrauen.
"Ja?"
"Reicht?"
Er grinste. 
"Und weil ich Geld habe, kann ich dir nicht helfen?"
"Nein, es... warum solltest du das für mich tun?"
Sein Lächeln nahm einen traurigen Zug an. 
"Ich weiß, was es bedeutet, Angst zu haben. Und wenn du dich entschließt, dich dieser Angst zu stellen, dann ist das etwas Mutiges. Ich bin nur der Meinung, dass mutig sein, einfach für jemanden ist, wenn man dabei nicht allein sein muss."
"Wovor hast du Angst?"
"Vor mehr, als man auf den ersten Blick ahnen könnte. Komm morgen mit Badesachen um etwa zehn Uhr wieder her. Dann fangen wir an."
Er ließ sich in einer geschmeidigen Bewegung zurück ins Wasser sinken.
"B-badesachen? Aber ich kann nicht-"
Er schwamm nochmal zum Steg und griff so überraschend nach Eileens Hand, dass sie diese nicht zurückzog.
"Ich werde dich zu nichts drängen, dass du nicht willst. Und ich werde dich auch nicht ins kalte Wasser schubsen."
Er wackelte bei dem flachen Witz mit den Augenbrauchen und Eileen stellte erstaunt fest, dass sie lachen musste.
Langsam ließ er ihre Hand wieder los. Ihre Haut kribbelte angenehm, wo er sie berührt hatte.
"Dann bis morgen, Tiger.", sagte er und verschwand im Wasser.
"Bis morgen.", murmelte Eileen und machte sich auf den Heimweg.
Ihr Lächeln blieb.

Der Froschkönig (Märchenadaption)Where stories live. Discover now