Fünfzehn

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Eileen war eine Stunde zu früh am See.
Genau die richtige Zeit, um ihren Handyspeicher auszumisten. Sie löschte die alten Nummern ihrer alten Freunde aus Dublin.
"Oh, bist du etwa wütend auf jemanden?", fragte eine Stimme hinter ihr.
Mit einem Schrei fuhr Eileen herum und hätte ihr Handy beinahe in den See fallen gelassen.
Cian stand hinter ihr. Wie hatte er sich so lautlos anschleichen können?
"Wehe, du erschreckst mich noch einmal so...", keuchte sie und wartete, bis sich ihr Herzschlag beruhigte.
Cians Mundwinkel zuckten. Er trug eine Badehose und ein einfaches T-Shirt. Er sah so... normal aus.
"Entschuldige. Also, was hat es damit auf sich? Du sahst schon von da drüben wütend aus."
Hatte sie ihn gar nicht bemerkt? Dazu kam der Gedanke, dass er sie offenbar beobachtet hatte. Ihr Herz schlug erneut einen Galopp an.
"Ich wüsste nicht, was dich das angeht... aber es ist kein Geheimnis. Ich will nur die Nummern aus dem Speicher haben. Keiner von ihnen hat sich seit meinem Umzug gemeldet. Ich hab zwar auch nicht damit gerechnet, aber ich... ich will mich auf mein neues Leben hier konzentrieren."
"Klingt, als hättest du dich mit deinem Umzug abgefunden."
"Wer sagt, dass ich das längst habe?"
"War nur geraten. Bist du bereit?"
Er deutete auf den See.
Eileen schluckte schwer und steckte ihr Handy weg. Sie sah die ruhige Wasseroberfläche an. Eine Libelle schwirrte darüber hinweg und verschwand hinter den Büschen.
Der See sah so friedlich aus. 
"Weißt du... wie tief es ist?"
"Ich wäre zwar sowieso nicht bis zur Mitte mit dir rein, aber ich würde sagen so um die fünf Meter. Vielleicht auch sieben."
Eileen presste die Lippen aufeinander. 
"Hey."
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. "Ich lass dich nicht untergehen. Dir passiert nichts, versprochen."
Sie fragte sich, wie viel eines seiner Versprechen wert war.
Er konnte doch nicht einmal das mit ihrer Kette halten.
Aber etwas in ihr wollte ihm unbedingt vertrauen und sie hatte Angst, dass es nur die rosarote Brille war.
Er zog sein T-Shirt aus und ging vom Steg zum Ufer hinunter. 
"Kommst du?"
Eileen zögerte.
Wenn sie sich ihrer Angst stellen wollte, war jetzt die Gelegenheit dazu. Sie atmete tief durch und öffnete den Knopf ihrer Jeans.
Sie hatte sich vorsorglich bereits bei sich zu Hause umgezogen.
Den Badeanzug hatte sie sich von ihrer Mutter geliehen.
Obwohl sie ihn darunter trug und so nichts entblößte, fühlte es sich seltsam an, sich vor Cian auszuziehen. 
Glücklicherweise schien er das zu merken, denn er sah schnell in eine andere Richtung. 
Mit einem leichten Zittern stand sie auf und ging langsam zu ihm.
Cian blickte wieder zu ihr und musterte sie kurz.
Sie wartete nur darauf, dass er irgendetwas Dummes oder Arrogantes sagte, um weglaufen zum können. 
Einen Grund zu haben.
Etwas, das zeigte, wer er wirklich war.
Doch er lächelte einfach nur und streckte ihr die Hand entgegen. 
"Bereit?"
"Nein.", antwortete Eileen ehrlich und griff danach.
Seine Finger schlossen sich warm um ihre und hielten sie fest.
Er machte ein paar Schritte nach vorne ins Wasser.
Es reichte ihm dort gerade einmal bis zu den Knöcheln. 
Eileen starrte den See vor ihr an.
Jetzt oder nie.
Sie folgte ihm.
Das Wasser war kühl und ließ sie hellwach werden.
Sie verkrampfte ihren Griff um Cians Hand, doch er gab keinen Mucks von sich, sondern sah sie nur geduldig an. 
Sie stellte sich neben ihn.
Ihre Füßen gruben sich den weichen Kies und langsam gewöhnte sie sich an die Temperatur des Wassers. 
"Wie fühlst du dich?", fragte Cian.
"Ganz okay... bis jetzt.", murmelte Eileen. 
"Traust du dir zu, ein bisschen weiter rein zu gehen?"
Eileen nickte nur.
Sie hatte Angst, dass der Mut sie verließ, wenn sie etwas sagte. 
Cian ging vor, bis er gute dreißig Zentimeter im Wasser war.
Sie versuchte, sich nur auf seine Hand zu konzentrieren, die ihre festhielt.
Versprochen, hatte er gesagt. 
Sie wagte sich genauso weit nach vorne.
Das Wasser schloss sich um ihre Beine.
Sie stolperte etwas näher zu Cian und betrachtete fasziniert ihre den Grund unter ihr. 
Sie stand in einem See.
Zum ersten Mal seit dem Unfall.
Ein Lachen entfuhr ihr.
Sie fühlte sich unsicher und übermütig zugleich. 
Sie sah Cian an und stellte fest, dass er ebenfalls breit lächelte.
"Wie geht's dir jetzt?"
"Das... keine Ahnung, gut. Das ist schon... so viel mehr, als ich erwartet habe. Ich hatte sogar Angst vor der Badewanne."
Cian griff nach ihrer anderen Hand und wurde ernst.
"Das ist schon sehr gut, Eileen, aber wir sollten es nicht übertreiben. Wie wäre es, wenn wir versuchen, uns zu setzen?"
Der Gedanke daran, dass sie bis zur Hälfte unter Wasser war, ließ den Übermut wieder verfliegen.
"Ich..."
"Wir müssen nicht, wenn du nicht willst. Lass dir Zeit."
Eileen nickte.
Sie atmete noch ein paarmal tief durch. 
Sie ging zögerlich in die Knie, Cian ließ sich mit ihr nieder. 
Das kühle Nass hüllte sie ein. 
Beinahe in Zeitlupe setzte sie sich auf den Grund.
Ihr Atem ging schneller, ohne dass sie es wirklich bemerkte. 
Sie spürte, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmerte.
Mit Mühe widerstand sie dem Drang, aufzuspringen und zu flüchten.
Sie wollte nicht mehr weglaufen.
Eine Hand strich ihr über den Rücken.
"Alles gut?"
Sie fing Cians Blick auf.
Sie gab sich alle Mühe, sich zu beruhigen, aber sie bekam nur schwer Luft.
"Eileen? Sollen wir zurück ans Ufer?"
"Nein.", erwiderte sie atemlos.
"Nein, nur... kannst... du mich... ablenken?"
"Soll ich dir von einer meiner Ängste erzählen?"
Eileen lachte mit einem kurzen Japsen. 
"Du... hast vor etwas... Angst?"
Cian schmunzelte.
"Vor einigen Dingen sogar. Eins davon sind Schlangen."
"Schlangen?"
"Jep. Ich hasse diese glitschigen Viecher. Als ich jünger war, war eine bei uns im Garten und ist auf mich zugekrochen. Ich hab noch nie so sehr geschrien."
Allmählich beruhigte Eileens Atem sich.
Sie lächelte ihn an.
"Ich mag keine Käfer."
Sein Arm rückte von ihrem Rücken um ihre Schultern und schob sie kaum merklich näher an ihn.
Eileens Herz schlug erneut schneller, doch diesmal nicht aus Angst.
Sie versuchte, die Ruhe zu genießen, die langsam in ihren Körper zurückkehrte.
Die Ruhe, im Wasser sitzen zu können, ohne von Angst zerfressen zu werden.
Sie ließ ihren Kopf an seine Schulter sinken und war überrascht, wie gut sich das anfühlte.
Dass sie ihm tatsächlich vertraute.
"Warum hilfst du mir?", flüsterte sie, mehr um ihre Gedanken loszuwerden, als unbedingt ein Gesprächsthema zu finden.
"Warum hältst du mich immer noch für einen herzlosen Mistkerl?"
"Das tue ich nicht."
"Ach nein?"
"Nein, nicht mehr."
"Das freut mich zu hören."
"Weißt du schon etwas Neues wegen dem Foto?"
"Nein, noch nicht. Aber ich sag es dir, wenn es so ist."
"Willst du mir auch sagen, was es damit auf sich hat?"
Cian schien aus einer Trance aufzuwachen.
Er hielt weiterhin Eileens Hand fest, ließ sie ansonsten aber los.
"Ich muss... ich muss wieder zurück. Lass und ein andermal darüber reden. Komm, ich helf dir hoch."
Verwirrt ließ Eileen sich von ihm hochziehen und ging mit ihm aus dem Wasser.
"Was hast du denn? Hab ich was Falsches gesagt?"
"Nein... ich muss wirklich los. Wir sehen uns, Eileen."
Er streifte sich sein T-Shirt über und ging mit schnellen Schritten zu den Hügeln, in Richtung seiner Villa.
Eileen sah ihm hinterher.
Er hatte sie bei ihrem Namen genannt, nicht Tiger.
Was auch immer mit ihm los war... es bedrückte ihn.

Der Froschkönig (Märchenadaption)Where stories live. Discover now