Sechs

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Eileen wusste nicht warum, aber nach der Schule zog es sie wieder zum See. So sehr sie das Wasser auch fürchtete, so magisch wirkte dieser Fleck Paradies auf sie. Diesmal wagte sie sich ein paar Schritte auf den schmalen Steg, der ein paar Meter hinein führte. Die Oberfläche glitzerte schwach im Sonnenlicht. Eileen genoss die Stille, aber sie hielt nicht lange an. Etwas im Wasser bewegte sich. Sie rutschte ein wenig vom Rand weg. Plötzlich tauchte jemand aus dem Wasser auf und sie konnte sich einen Schrei nicht verkneifen. Wie konnte jemand so lange unter Wasser bleiben? Sie hatte niemanden gesehen oder gehört! Der Schock saß noch tiefer, als sie erkannte, wer sich da aus dem Wasser zog und auf den Steg setzte.
"Cian!?", fragte sie beinahe entsetzt.
Er blickte sie einen Moment lang ausdruckslos an, eher er grinste.
"Hallo, kleine Maus."
Obwohl es für Jungen normal war, nur eine Badehose zu tragen, sah sie mit brennenden Wangen zur Seite. Dieser Idiot ohne Hemd machte sie deutlich nervöser als er sollte.
"Sag bloß, ich mach dich nervös.", spottete er.
Eileen würde den Teufel tun und ihm auch noch die Bestätigung geben, dass er gut aussah. Sie zwang sich, ihm in die Augen zu blicken.
"Was machst du überhaupt hier? Müsstest du nicht mit einem Sportwagen durch die Gegend rasen oder mit deiner Clique in einem Pub sitzen?"
Sein Blick verfinsterte sich.
"Ich habs dir schon mal gesagt, dass du dich nicht in Dinge einmischen sollst, von denen du keine Ahnung hast.", sagte er tonlos. "Du kannst übrigens gerne wieder gehen."
"Das ist nicht dein See.", erwiderte sie und war selbst überrascht über die Ruhe in ihrer Stimme.
Cian deutete auf einen breiten Weg, der in den Wald hineinführte.
"Mein Haus ist etwa einen Kilometer da hinten."
"Der See ist aber nicht auf deinem Grundstück."
"Woher willst du das wissen?"
"Komm mit einem Beweis wieder, ich genieße solange die Sonne."
Cian wirkte, als wolle er weiterstreiten, doch dann lächelte er.
"Du bist bissiger, als ich dachte. Vielleicht sollte ich dich kleiner Tiger nennen und nicht Maus."
"Du könntest mich auch Eileen nennen. Ist schließlich mein Name."
Eileen wusste nicht, woher ihre auf einmal diese Schlagfertigkeit kam, aber es gefiel ihr.
Sie hörte ein leises Lachen.
"Wie du meinst, Tiger."
Eileen sparte sich eine Erwiderung. Demonstrativ ließ wieder auf ihren Platz fallen und blickte auf das Wasser. Sie wollte wieder nach Hause. Zum ersten Mal hatte sie einen Platz für sich allein. Noch dazu wagte sie sich an ein Gewässer heran. Dieser See schien ihre Chance zu sein, mit der Vergangenheit fertig zu werden. Und dann kam dieses arrogante Geldsöhnchen und machte alles kaputt. Aber irgendetwas, vielleicht Sturheit, verbot ihr, einfach abzuhauen.
"Lass mich doch einfach in Ruhe.", sagte sie mehr genervt als wütend.
Cian holte ein Sporttasche hinter einem Busch hervor und zog ein Shirt heraus, das er sich überstreifte.
"Du übersiehst da eine Sache, Tiger. Ich war zuerst hier. Du kannst also ruhig abhauen."
Eileen sprang auf und ging mit schnellen Schritten auf ihn zu. Als sie seinen leichten Duft nach Shampoo und Erde wahrnahm, trat sie hastig einen Schritt zurück, eher er ihre Gedanken vernebelte.
"In Dublin hatte ich genug Typen wie dich an meiner Schule. Ich hab meinen Lebensvorrat an Idioten und ich lasse mich hier nicht vertreiben, weil du denkst, der See gehört dir. Das hier ist wichtig für mich, ich-" Eileen stoppte, eher sie sich verplapperte. Nur über ihre Leiche würde diesem Kerl erzählen, was damals geschehen war.
Aber Cian sah sie bereits interessiert an.
"Ja? Warum ist dir der See wichtig?"
"Das geht dich nichts an!", fauchte sie eine Spur zu heftig und lief zum anderen Ende des Sees. Dort setzte sie sich und schwor sich, ihn keines Blickes mehr zu würdigen. Irgendwann verschwand Cian ohne ein weiteres Wort und Eileen atmete erleichtert auf.
Sie zog den Anhänger an ihrer Kette hervor und drehte ihn langsam im weniger werdenden Sonnenlicht. Es war eine einfach Kugel, keine Muster und keine Gravur. Ein seltsames Schmuckstück, aber Eileen dachte zum ersten Mal über ihre Familie nach. In Dublin hatte es nur sie und ihre Eltern gegeben. Sie hatte nie über ihre Großeltern nachgedacht und das war auch nicht nötig gewesen. Als diese noch am Leben waren, hatten sie sich auch nie um sie geschert. Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken.
"Hallo?"
"Hey.", erklang Billies Stimme. "Hast du Lust, zu mir zu kommen?"
Eileen grinste.
"Willst du mir sagen, wie sauer du auf Reed bist?"
Eine Weile herrschte Stille.
Dann grummelte Billie: "Ich hab Kekse da."
Eileen lachte.
"Ich bin in zwanzig Minuten da."
Sie schrieb ihrer Mutter eine Nachricht, um ihr Bescheid zu geben und ging mit einem letzten Blick zum See.
Auf dem Weg ins Dorf lauschte Eileen den Geräuschen des Waldes. Einen seltsamen Moment lang fragte sie sich, ob ihre Mutter als Kind oft im Wald gewesen war. Ob ihre Großmutter den Wald gemocht hatte. Was mit dem Haus geschehen war und warum sie es so plötzlich verkauft hatte. Eileens Kopf schmerzte. Solche Fragen waren ihr bisher nie in den Sinn gekommen und nun erdrückten sie sie fast. Es war, als würde dieses Dorf ihre Vergangenheit aus einer verschlossenen Kiste hervorholen. Eileen sah diese Kiste vor sich wie ein Bild auf einer Leinwand. Die Kiste lag auf dem Grund eines Sees.

Der Froschkönig (Märchenadaption)Where stories live. Discover now