Zwei

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Eileen war vor ihrer Mutter zu Hause. Das meiste war schon ausgepackt, aber ein paar Kartons ließen sie im Wohnzimmer fast stolpern. Der Kühlschrank war nur mit ein paar Mikrowellengerichten gefüllt. Missmutig sah Eileen zur Uhr. Es gab einen Supermarkt in der Gegend und der hatte sicher nicht mehr geöffnet. Sie hatte sich nach der Schule noch von Billie und Reed zu einem Kaffee überreden lassen. Inzwischen war die Sonne längst hinter den Bergen und Wäldern verschwunden. Ihr Magen knurrte rebellisch und mit einem Seufzer griff sie nach einem der Fertiggerichte. Sie ließ sich damit auf das Sofa im Wohnzimmer fallen und schaltete den Fernseher ein. Während einer Sitcom döste sie langsam ein bis ein Geräusch an der Tür sie hochfahren ließ. Ihre Mutter kam herein. Einige Strähnen hatten sich aus ihrem ordentlichen Dutt gelöst. Eileen wunderte sich, wie sie sich trotz ihrer offensichtlichen Müdigkeit noch in ihren hohen Schuhe halten konnte.
"Hi, Mum.", rief sie.
"Hallo, Schatz. Wie war der erste Tag?"
Sie ließ sich zu Eileen auf die Couch fallen.
"Eigentlich ganz okay."
Ihre Mutter lächelte müde.
"Na siehst du. Es war schon die richtige Entscheidung, du wirst sehen."
"Wie war dein Tag?"
"Anstrengend. Es gibt so viel zu tun, aber die Kanzlei ist toll."
Eileen rang sich ein Lächeln ab. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf, aber sie traute sich kaum zu fragen.
"Hat... Dad anrufen?", fragte sie heiser.
Ihre Mutter mied ihren Blick.
"Nein, Liebling. Er ist sehr beschäftigt mit der neuen Arbeit und..."
Sie verstummte, vermutlich, weil ihr selbst auffiel, was für eine Ausrede das war.
"Ist schon gut, Mum.", log Eileen. "Ich geh mich dann fertigmachen."
Sie lief mit schnellen Schritten hoch ins Badezimmer und verschloss die Tür hinter sich. Vor dem Spiegel zuckte sie kurz zusammen. Sie hatte in den letzten Tagen nicht hingeschaut, aber nun sah ihr Spiegelbild genauso erschöpft wie ihre Mutter aus. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe und sie war ungewöhnlich blass. Sie konzentrierte sich auf das Zähneputzen und mied einen weiteren Blick in den Spiegel. Sie dachte an ihren Vater, der irgendwo in Dublin bei einem weiteren Geschäftsessen saß und sich von seinen Projektpartnerinnen schöne Augen machen ließ. Natürlich rief er nicht an. Er war insgeheim doch froh gewesen, als er die Scheidungspapiere unterzeichnet und von ihrer Mutter erfahren hatte, dass sie in ihre alte Heimat zog. Eileen vermisste bloß das bunte Leben in Dublin. 
Sie drängte die Erinnerungen an die Stadt beiseite. In einem Pyjama ließ sie sich auf ihr Bett fallen und blickte auf den Sternenhimmel. Sie hörte das Zirpen der Grillen durch das halb geöffnete Fenster und der Rest des Sommers fand in Form einer warmen Brise den Weg in ihr Zimmer. Sie spürte, wie eine unsichtbare Last von ihr abfiel und schloss müde die Augen.

~

Eileen wurde von ihrer Mutter geweckt, die lautstark in ihr Zimmer polterte.
"Eileen! Es ist schon halb acht! Mein Wecker hat nicht geklingelt!"
Sofort fuhr Eileen hoch. Sie hatte keinen Wecker, weil sie immer zeitgleich mit ihrer Mutter aufstand und noch einen gebraucht hatte. Sie verfing sich in ihrer Decke und fiel bei ihrem Versuch aufzustehen. Fluchend kämpfte sie sich hoch und klatschte sich im Bad eine kalte Ladung Wasser ins Gesicht. In Rekordzeit putzte sie sich die Zähne und zog sich an.
"Ich kann dich nicht zur Schule fahren, das wäre ein zu langer Umweg!", rief ihre Mutter von der Haustür aus. Dein Rad steht in der Garage!"
Dann fiel auch schon die Tür zu. Eileen hastete die Treppen nach unten. In der Garage stand tatsächlich ihr altes Fahrrad. Die Reifen brauchten dringend Luft, aber dafür war keine Zeit. Sie schwang sich hinauf und raste aus der Ausfahrt. Ihr Haus stand mit einigen anderen etwas abseits vom Ort und eine schmale Straße führte den Hügel hinauf. Graue Wolken zogen sich zusammen und Eileen glaubte in der Ferne ein Donnern zu hören. Sie trat noch etwas schneller in die Pedale. Als sie endlich den Hügel hinter sich hatte, rang nach Atem. Es waren noch etwa fünf Minuten bis zur Schule. Das konnte sie schaffen. In dem Moment traf sie etwas Nasses am Kopf. Unzählige Tropfen fielen vom Himmel und durchweichten ihre nicht für den Regen gemachte Kleidung innerhalb einer Minute.  Seufzend schleppte sie sich weiter voran. Der Regenschleier ließ ihre Sicht verschwimmen. Plötzlich tauchte eine Gestalt zwischen den Häusern auf. Eileen bremste so abrupt, dass sie in Schleudern kam und beinahe vom Rad gefallen wäre. Eine Frau mit einem karierten Kopftuch und einem altmodischen Blümchenkleid, über dass sie nur einen einfachen Wollmantel trug, starrte sie mindestens genauso erschrocken an, wie Eileen sie. Irgendetwas ließ Eileen glauben, dass ihr Ausdruck nicht nur von dem beinahe verursachten Unfall herrührte. 
"Fiona?", krächzte sie. 

Eileen wusste keine Erwiderung. Die Frau hatte sich erschreckt und nun verwechselte sie sie mit jemandem.

"Nein.", antwortete sie bloß nach einer Minute verlegenen Schweigens. "Ich heiße Eileen."

Die Frau schüttelte verwirrt den Kopf, als wollte sie böse Gedanken vertreiben. 

"Du siehst ihr so ähnlich.", murmelte sie so leise, dass Eileen sie kaum hören konnte. 

"Sind Sie irgendwie verletzt?", fragte Eileen vorsichtshalber. 

Die Frau murmelte mehrmals Nein hintereinander. Eileen war sich sicher, sie nicht mit Rad erwischt zu haben, doch ganz in Ordnung schien sie auch nicht zu sein. Andererseits redeten alte Leute oft wirres Zeug. Eileen musterte sie nochmal. Körperlich ging es ihr offenbar gut. 

"Es tut mir leid, ich muss zur Schule.", erklärte sie mit leichter Panik in der Stimme. 

Als die Frau nicht reagierte, fuhr sie schweren Herzens weiter. Sie glaubte, dass sie Frau ihr etwas hinterherrief, aber was auch immer es war... es ging im Rauschen des Regens unter.


Der Froschkönig (Märchenadaption)Where stories live. Discover now