Kapitel drei: Schnee

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MEROWEN

Fluchend bahnte ich mir den Weg durch den tiefen Schnee. Ich war seit zwei Stunden unterwegs und meine Nerven lagen blank. Nachdem auch Lord Devlon einige Stunden nach Cassian das Lager verlassen hatte, war die Befehlsgewalt an Tayquir übergegangen. Er war im Vergleich zu Lord Devlon noch jung, hatte jedoch einen seiner Arme im Kampf verloren. Deshalb blieb er im Lager und nutzte dies aus, um uns Frauen das Leben zur Hölle zu machen. Selbst als Krüppel war er mehr wert als eine gesunde Illyrianerin. 

Mir hatte er unverzüglich die mühsamste Aufgabe zugewiesen: das Jagen. Da ich nun die einzige Frau in Windhaven war, die eine Waffe führen konnte, war seine Wahl absehbar gewesen. Was nicht hieß, dass ich diese Aufgabe gerne erledigte. Jagen war in den Bergen schwer, besonders im Winter. Oft wanderte man Stunden umher, ohne auch nur die Spuren eines Kleintiers zu finden. Mit meinen Flügeln hätte ich eine bessere Chance gehabt, doch die würden erst bei Nacht auftauchen. In Situationen wie diesen hasste ich meinen Halbblutkörper dafür. Die Sonne ging langsam unter und ich fragte mich, wie Tayquir wohl reagieren würde, wenn ich mit leeren Händen zurückkäme. Meine Füße waren längst taub vor Kälte und mein Waffengürtel mit den Dolchen schnitt bei jedem Schritt in meine Schulter. 

Ich wollte gerade umdrehen, als ein Schrei die Stille zerriss. Ich blieb sofort stehen und zückte einen der längeren Dolche. Das darauf folgende Gebrüll ließ die Vögel im umliegenden Wald in Schwärmen auffliegen. Es musste sich um ein wildes Tier handeln, das einen Wanderer angefallen hatte. Es war zwar nicht besonders klug, aber ich beschloss ihm zu helfen. Erlegen würde ich heute sowieso nichts mehr. Ich wandte mich in die Richtung des Geräuschs und ging langsam Richtung Wald. Weit und breit war nichts zu sehen. Plötzlich verstummte der Schrei. Die darauf folgende Stille war beinahe unheimlich. Ich schüttelte kurz den Kopf. Seit wann ließ ich mir von einem wilden Tier Angst einjagen? Ich hatte schon dutzende erlegt, das würde ein Kinderspiel werden. Und vielleicht kam ich so ja doch noch an etwas Fleisch. 

Ich umklammerte den Dolch fester mit meinen tauben Fingern und stapfte langsam auf den Wald zu. Währenddessen rief ich mir den Schrei in Erinnerung. Er hatte so gar nicht nach einem Fae geklungen. Aber auch nicht nach einem Illyrianer, abgesehen davon würde keiner meines Volkes sich beim Jagen umbringen lassen. Ich hatte den Waldrand erreicht. Mir schlug der metallische Geruch von Blut entgegen. Das roch beinahe wie... 

In diesem Moment brach ein riesiger Schatten durch die Bäume und ich erstarrte. Ein Mantikor, halb Löwe, halb Mann. Wie konnte ein solches Wesen noch existieren? Und viel wichtiger: was machte es hier so weit im Norden? Der letzte Mantikor wurde laut Überlieferungen von Helion schon vor Jahrhunderten erlegt. Der High Lord hatte höchstpersönlich dafür gesorgt, dass die in seinem Gebiet heimischen Ungeheuer endgültig vernichtet wurden. Diesem war anscheinend die Flucht gelungen. Und irgendwie hatte es seinen Weg an allen Höfen vorbei und in die Berge gefunden. 

Ich beschloss, mir später den Kopf darüber zu zerbrechen, da in diesem Moment der Schwanz des Mantikors dicht neben mir in den Boden schlug. Ich konnte mich gerade noch auf den Boden werfen und so dem giftigen Stachel am Ende des Schwanzes ausweichen. Ich erinnerte mich verschwommen an eine Geschichte, die mir Elia einmal erzählt hatte. Mantikore hatten das Gesicht eines Menschen und den Körper eines Löwen. Dadurch waren sie erschreckend schnell und wendig. Das eigentlich Gefährliche war jedoch der mit Stacheln bewehrte Skorpionschwanz der Bestien. Ein Tropfen seines Gifts konnte selbst einen High Fae töten. Alle anderen Wesen starben vermutlich sofort. 

Ich sprang auf und wirbelte herum, in der Drehung nach den restlichen Dolchen greifend (den längsten hatte ich leider verloren, als ich zu Boden ging). Gerade rechtzeitig, denn kaum dass ich auf den Beinen war, setzte der Mantikor zum Sprung an. Nur meiner jahrelangen Ausbildung war es zu verdanken, dass ich die Nerven behielt und wartete, bis ich den Atem des Mantikor auf meinem Gesicht spürte. In letzter Sekunde wich ich blitzschnell nach rechts aus, drehte mich noch in der Bewegung leicht nach links und holte mit dem Dolch aus. Doch anstatt sich tief in das Fleisch des Ungeheuers zu bohren, prallte er ab, als wäre er auf Metall gestoßen. Den tödlichen Schwanz des Mantikors im Auge behaltend, brachte ich mich durch einen großen Sprung nach hinten außer Reichweite und nahm eine Abwehrhaltung ein. 

Meine Gedanken rasten. Wie war das nur möglich? Elia hatte in ihren Geschichten zwar ausführlich über die Tödlichkeit der Mantikore berichtet, aber nie etwas von Unverwundbarkeit erwähnt. Sie hatten zwar den Körper eines Löwen, doch auch einen Löwen konnte man töten. Außerdem waren meine Dolche zwar klein, aber aus illyrianischen Stahl gefertigt, weshalb sie eigentlich jedes Material zu durchdringen vermochten. Aber dieser Mantikor.. an ihm war die Klinge abgeprallt. Und wenn ich ihn nicht töten konnte, sah es schlecht für mich aus. Ich verzog meine Lippen zu einem gequälten Lächeln. Flucht war auch keine Möglichkeit, vor allem, nicht zu Fuß. Wenn ich dieses Monster zum Lager lockte, hatten die Illyrianer dort keine Chance. Es waren nur Frauen und Kinder dort geblieben. Und Tayquir. Aber falls dieses Wesen tatsächlich immun gegen illyrianische Waffen war, würde auch er es nicht besiegen können. Abgesehen davon war ich die einzige Kriegerin, die zurückgeblieben war. Ich musste versuchen, dieses Biest aufzuhalten. 

Ich schnellte nach vorne, direkt auf den Kopf des Mantikors zu. Dieser hatte mit einem Frontalangriff nicht gerechnet und machte einen Satz nach hinten; dann holte er mit seinem Schwanz aus. Perfekt. Ich duckte mich unter seinem Schwanz hindurch, wirbelte herum und schwang den Dolch gegen das untere Ende mit den giftigen Stacheln. Mit voller Wucht rammte ich die Klinge in den Teil des Schwanzes, wo der Giftstachel in den Panzer überging. Der Mantikor heulte auf. Ich ließ den Dolch stecken und brachte mich wieder außerhalb der Reichweite des Monsters. Durch den Kampf war mir inzwischen warm geworden und ich spürte, wie meine Kräfte allmählich nachließen. Die stundenlange Wanderung im Schnee und das Kämpfen ohne Flügel forderten ihren Tribut; ich musste schnell eine Lösung finden. 

In diesem Moment spürte ich die Veränderung in meinem Körper. Endlich, es war Nacht geworden. Ohne zu zögern drehte ich mich um und rannte los. Hinter mir hörte ich den Mantikor, er hatte meine Verfolgung aufgenommen. Ich legte noch etwas an Geschwindigkeit zu und sprang dann so hoch ich konnte, dem Nachthimmel entgegen. Noch im Sprung entfalteten sich zwei riesige weiße Flügel auf meinem Rücken und trugen mich immer höher. Geschafft! Fliegend würde mich der Mantikor nicht verfolgen können. Auch wenn es mir beinahe Leid tat, ohne Beute in das Lager zurückkehren zu müssen; bei einer solchen Sache konnte mir nicht einmal Tayquir einen Vorwurf machen.

Plötzlich spürte ich einen brennenden Schmerz in meiner linken Schulter und schrie auf. Ich blickte mich um und sah direkt in das menschliche Gesicht des Mantikors. Wie im Namen aller High Lords..!? Da sah ich die Flügel auf seinem Rücken. Zwei Paar, schwarz wie die Nacht. Oh mein Gott. Es konnte fliegen. Der Mantikor riss seine Klaue aus meiner Schulter und stürzte sich auf mich. Ich war wie gelähmt, mein Gehirn war leer, sämtliche Lektionen und Kampfübungen im Lager waren vergessen. Aber wie sollte ich auch wissen, was in so einer Situation zu tun war? Ein fliegender Mantikor mit undurchdringlicher Haut.. so etwas gab es nicht! Und doch griff mich gerade ebendieses Wesen an. Der Schock ließ mich erstarren, ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich befand mich im Griff des Mantikors, er hielt mit meinen Klauen meine Flügel gepackt, fast als wolle er mich am fliegen hindern. So konnte ich das Kommende kaum verhindern. Mit seinen langen Vorderzähnen biss er mir in die bereits blutige Schulter. Dann ließ er von mir ab, stieß sich ab und beobachtete mich. Ich stand immer noch unter Schock; glücklicherweise handelte mein Körper jedoch instinktiv und versuchte, mich in der Luft zu halten. Meine Flügel waren seltsamerweise kaum beschädigt worden. Warum hatte der Mantikor sie nicht zerfetzt? Ich wäre sofort in den Tod gestürzt. Ich schlug kräftig mit den Flügeln und versuchte mich zu orientieren. Obwohl der Schmerz in meiner Schulter mich fast umbrachte, registrierte ich in der Ferne die bekannten Umrisse des Berges Ramiel. Ganz in der Nähe war das Lager Windhaven. Aber die Silhouette des Berges war seltsam, irgendwie zu verschwommen. Ich blinzelte mehrmals, aber meine Sicht wurde immer schlechter. Inzwischen sah ich sogar kleine Punkte tanzen. Hatte ich zuviel Blut verloren? Ich sah mich um. Der Mantikor schwebte immer noch in der Luft und beobachtete mich, als würde er auf etwas warten. Da begriff ich: nicht nur der Stachel, sondern auch die Zähne des Biests waren mit Gift versetzt gewesen. Mein letzter Gedanke, bevor ich das Bewusstsein verlor und wie ein Stein vom Himmel stürzte, galt dem Geruch, den das Blut des getöteten Wanderers im Wald gehabt hatte: Menschenblut.

Tales of Wings and Fire (ACOTAR fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt