Kapitel neunundzwanzig: Der bittersüße Schmerz der Erinnerung

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MEROWEN

Suchend sah ich mich um, doch der Baum schien das einzige Rätsel in diesem Raum zu sein. Schnell durchquerte ich den Saal und näherte mich ihm. Als ich bis auf wenige Meter an den Baum herangetreten war, ertönte eine glockenhelle Stimme in meinem Kopf.


"Ich bin so beständig wie die Zeit,

spende Leben und bewahre den Tod.

Und doch kann Stärke mich erblühen lassen,

auch wenn die Hülle es nicht zeigt."



Verwirrt stolperte ich einige Schritte zurück und sah zu Beron. Dieser inspizierte völlig gelangweilt seine Fingernägel und schien das eben Gesagte gar nicht wahrzunehmen. Konnte ich die Worte des Baums als Einzige vernehmen?

Hast du das eben auch gehört?, richtete ich meine geistige Stimme an meinen treuen wölfischen Begleiter.


Doch dieser blieb stumm. An seinem wütenden Knurren erkannte ich allerdings, dass er sehr wohl geantwortet hatte, er aber nicht zu mir durchdringen konnte. Mit anderen Worten: ich war auf mich alleine gestellt.

Ratlos ließ ich mich zu Boden sinken und stützte meine Ellenbogen auf meinen überkreuzten Unterschenkeln ab. Ich saß nahe genug an dem Baum, um das Rätsel wie in Dauerschleife in meinem Kopf hören zu können. 

Die ersten zwei Sätze klangen wie eine einfache Beschreibung. "Beständig wie die Zeit", das war doch so ziemlich jeder Baum oder? Bäume galten seit jeher als Symbol für Fruchtbarkeit und Leben; doch was war mit dem Tod gemeint? Wie konnte ein Baum den Tod bringen? Musste ich mich etwa opfern?

Energisch schüttelte ich den Kopf, um diesen unangenehmen Gedanken zu vertreiben. Mein Tod konnte nicht die Lösung des Rätsels sein. Beron hatte die Prüfung bereits abgelegt und lebte immer noch. Also musste der Knackpunkt des Rätsels in seinem zweiten Teil liegen.

"Und doch kann Stärke mich erblühen lassen..", was war damit bloß gemeint?!


Gedankenverloren ließ ich meinen Blick wandern, bis er auf Eris zu ruhen kam. Mein Bruder stand wie immer etwas abseits vom Geschehen hinter der magischen Barriere und ließ gelangweilt einige Flammen zwischen seinen Fingern tanzen.

Scharf sog ich die Luft ein. Das war die Lösung, Feuer! 

Langsam wandte ich mich dem Baum zu. Die verdorrten Äste ergaben auf einmal Sinn. Ich musste mit meiner Feuermagie den gesamten Baum brennen lassen, bis... . Ja bis wann eigentlich? Bis der Baum mich anerkannte? Ich konnte nur mit Mühe ein überdrehtes Lachen unterdrücken. Jetzt hing mein Leben also schon von der Gunst einer Pflanze ab?

Trotzdem musste ich es versuchen. Ich trat näher und konzentrierte mich auf die Macht in meinem Inneren. Kurz darauf züngelten Flammen den Baum empor.






Es mussten bereits Stunden vergangen sein, doch der Baum zeigte keine Reaktion. Ich inzwischen allerdings schon. Der Schweiß lief mir in die Stirn, meine Beine waren schon vor einer ganzen Weile taub geworden und auch ohne mich umzudrehen spürte ich die besorgten Blicke meiner Freunde in meinem Rücken. Der Fenris hatte sich an meine Seite geschmiegt und trug inzwischen fast mein ganzes Gewicht; ich zog jede verbliebene Energie in die Flammen, die den Baum am Brennen hielten.

Tales of Wings and Fire (ACOTAR fanfiction)Opowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz