39. Kapitel: Abschied

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Ich liege tatsächlich stundenlang wach. Erst als die Morgendämmerung einbricht, sinke ich in einen unruhigen und keinesfalls erholsamen Schlaf. Ich träume vom SMV-Raum, von Berührungen voller Leidenschaft und Sehnsucht. Von Himbeerlipgloss und wohlgeformten Brüsten. Ich will sie berühren, will ihre Wärme an meinen Fingerspitzen kribbeln spüren. In meinem Unterleib pocht es. Ihre Haare kitzeln auf meiner nackten Haut. Ich höre ihren tiefen Atem, das leise Stöhnen. Ihre Lippen sind ganz nah an meinem Ohr. Sie wispert meinen Namen. Der Geruch nach Vanille benebelt meine Sinne. Ich halte inne. Vanille? Ich löse mich von meiner Sexpartnerin. Sie lächelt. »Sam!«

Laut schnaufend sitze ich aufrecht im Bett. Tageslicht fällt durch das Fenster, auch wenn die Vorhänge noch halb zugezogen sind. Ich sehe mich um und stelle fest, dass ich allein im Zimmer bin. Sams Koffer ist auch verschwunden. Panik erfasst mich. Ich schaue auf die Uhr und es ist kurz vor zehn. Habe ich sie verpasst? Ist sie gegangen, ohne dass ich die Chance hatte, mich von ihr zu verabschieden? Ich springe aus dem Bett und ziehe mir in rasender Geschwindigkeit T-Shirt und Jeans an. Meine Morgentoilette lasse ich ausfallen und renne in Hausschuhen aus dem Zimmer. Auf der Treppe verliere ich einen Schuh und stolpere beinahe. Ich kicke den zweiten von mir und laufe barfuß weiter. Mir entgehen nicht die entgeisterten Blicke meiner Mitschüler, doch die sind mir in diesem Augenblick egal. Ein heftiges Seitenstechen setzt ein. Ich beiße auf die Zähne und eile weiter. Sam darf nicht gehen. Nicht einfach so. Sie muss sich ordentlich von mir verabschieden, das ist sie mir schuldig.
Ich stürze aus dem Haupteingang und sofort fällt mein Blick auf die Limousine, die vor dem Tor parkt. Davor stehen Lis und May und unterhalten sich mit einem vornehm gekleideten Mann.
»Wo ist sie?«, keuche ich und halte mir die schmerzende Seite. Durch die getönten Scheiben des Wagens kann ich nicht sehen, ob jemand darin sitzt.
»Sam? Ich dachte, sie ist bei dir.« Lis mustert mich verwirrt und auch in Mays Augen stehen Fragezeichen.
»Nein, ist sie nicht. Ich bin aufgewacht und - ihr wart alle weg!« Ich schnappe nach Luft. Mein Herz klopft so wild, dass ich mich für eine Sekunde frage, ob man in meinem Alter bereits einen Herzinfarkt bekommen kann.
»Komisch. Sie hat gemeint, sie müsse noch was erledigen. Wir sind davon ausgegangen, dass sie sich von dir verabschieden möchte«, erklärt May.
»Vielleicht habt ihr euch verpasst«, mutmaßte Lis. »Sollen wir mal nachsehen?«
Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und schüttle den Kopf. »Ich gehe allein. Wenn sie mit mir sprechen wollte, dann sicher unter vier Augen.« Ich mache kehrt und haste zurück.
»Sag ihr, sie soll sich beeilen. Ihr Flieger geht in drei Stunden«, ruft mir der Mann hinterher. Ich reagiere nicht darauf, aber es stößt mir sauer auf. Ich will nicht daran denken, dass Sam geht und doch ist es unvermeidbar. Ich muss sie loslassen. Ich muss den Schlussstrich, den sie gezogen hat, akzeptieren, auch wenn es mir noch so schwerfällt.
Ich erklimme die Treppen, sammle dabei meine Hausschuhe ein und laufe den Gang der Mädchenschlafsäle entlang bis zu unserem Zimmer. Ich greife in meine Tasche und stelle fest, dass ich den Schlüssel vergessen habe. »Verdammter Mist«, fluche ich. Doch dann wird mir klar, dass Sam mir sicher öffnen wird, wenn sie auf mich wartet. Also klopfe ich an die Tür und lausche. Von drinnen vernehme ich kein Geräusch. Ich klopfe nochmal, diesmal heftiger. »Sam, bist du da?« Wieder keine Reaktion. Wo steckt sie bloß? Vielleicht ist sie ja nur kurz auf der Toilette. Ich poche erneut gegen die Tür, rufe ihren Namen. Doch sie öffnet nicht.
Plötzlich öffnet sich eine andere Tür auf dem Flur und Claudias Lachen ertönt. Für einen Moment erwäge ich, zu ihr zu gehen und ihr mein Leid zu klagen, als ich Sams Stimme vernehme. Verwirrt drehe ich mich um und sehe, wie die beiden aus Claudias Zimmer kommen und sich innig umarmen.
Eine unsichtbare Hand reißt das Pflaster mit solch einer Wucht von meinem Herzen, dass mir für einen Moment die Luft wegbleibt. Wut, Verzweiflung und - ja, so etwas wie Hass - dringen an die Oberfläche. Wäre ich ein Emoji, dann würde jetzt Rauch aus meinen Nasenlöchern strömen. Ich haste auf die beiden zu und rufe: »Sagt mal, wollt ihr mich verarschen?«
Erschrocken fahren die beiden auseinander. Für einen kurzen Augenblick reißt Sam die Augen auf, doch dann wird ihre Miene gleichgültig. Sie macht eine wegwerfende Handbewegung und sagt: »Das ist doch jetzt auch egal, oder? Ich gehe sowieso.«
Hat Sam bisher ein Loch in mein Herz gerissen, so zerschmettert sie es in diesem Moment in tausend Splitter. Ich schaue von ihr zu Claudia. Letztere ist kreidebleich, hebt die Hände und sagt: »Es ist nicht so, wie es aussieht.«
»Ach nein? Glaubst du ernsthaft, dass ich dir das abnehme? Ich weiß doch wie du tickst, Claudia. Es wäre nicht das erste Mal, dass du und Sam - dass ihr -" Meine Stimme versagt und ich schlage die Hände vors Gesicht.
»Jetzt beruhige dich. Es ist nicht das, was du denkst.« Sam berührt meine Schulter, doch ich stoße sie mit voller Wucht weg.
»Jetzt hau schon ab, Sam. Los!«
»Dany, bitte. Lass uns friedlich auseinander gehen.«
»Das wollte ich«, schniefe ich und heiße Tränen rinnen mir übers Gesicht. »Aber du hast alles versaut.« Ich sehe ihr in die Augen und glaube, einen Funken Reue zu erkennen, doch dann wird ihr Blick hart.
»Gut, dann gehe ich jetzt. Nach Amerika«, sagt sie tonlos.
»Mach das. Ich will dich nie wiedersehen.«
Sie öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, doch ich drehe mich um und stolziere zu unserem Zimmer zurück. Claudia und Sam verabschieden sich. Dann entfernen sich Schritte. Erst als ich vor unserer Zimmertür stehe, fällt mir ein, dass ich ja keinen Schlüssel habe. Schniefend und schluchzend sinke ich zu Boden und gebe meiner Enttäuschung und meinem Herzschmerz nach. Für eine Sekunde schaue ich nochmal hoch, doch Sam ist verschwunden. Nur Claudia steht noch auf dem Flur, schaut in meine Richtung und streckt die Hand nach mir aus. Ich ignoriere sie und vergrabe mein Gesicht an meinen angezogenen Knien. Ihre Zimmertür fällt ins Schloss. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich nicht nur wegen Sams Abschied weine, sondern auch, weil ausgerechnet Claudia mir in den Rücken gefallen ist. Ich dachte, sie würde zu mir halten.

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich vor unserer Tür sitze. Irgendwann sind meine Tränen aufgebraucht und ich kauere nur noch wie ein Häufchen Elend auf dem Boden. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor und doch bin überrascht, als ich Mays Stimme höre.
»Dany, was ist denn passiert?« Sie geht neben mir in die Hocke.
»Habt ihr euch gestritten?«, fragt Lis. Ich höre das metallene Klappern eines Schlüsselbunds.
»Komm. Gehen wir mal rein, dann können wir in Ruhe darüber reden.« May nimmt meine Hand und versucht mich hochzuziehen. Ich mache mich erst schwer wie einen Stein, dann gebe ich aber doch nach und erhebe mich.
Wenig später sitzen wir auf unseren Betten und ich erzähle den beiden alles.
»Glaubst du wirklich, dass Sam und Claudia nochmal etwas miteinander hatten?«, fragt May.
»Ich weiß es nicht. Es sah so aus, aber sie haben mir beide versichert, dass es nicht so war. Doch allein schon der Gedanke, dass sie zu Claudia gegangen ist, anstatt zu mir, tut so verflucht weh.«
»Claudia ist ein echtes Biest. Du darfst dich echt nicht auf sie einlassen. Sie macht was sie will, völlig skrupellos und ohne Rücksicht auf Gefühle.« Ich erwarte, dass Lis mich mit ihrem Ich-hab's-dir-doch-gesagt-Blick ansieht, doch das tut sie nicht. Stattdessen schenkt sei mir eine warme Umarmung.
»Alles wird wieder gut«, sagt May und ich bin kurz davor, laut aufzulachen. Daran glaube ich schon lange nicht mehr.
»Sam ging es übrigens auch nicht gut, als sie gegangen ist. Sie hatte ganz rote Augen«, sagt Lis und lässt es wie eine nebensächliche Bemerkung klingen.
Ein zartes Pflänzchen der Genugtuung blüht in mir auf. Ich kann nur hoffen, dass ich Sam mit meinen Worten genauso hart getroffen habe, wie sie mich mit der gesamten Aktion. Ich springe auf und schnappe meine Schlüssel vom Nachttisch.
»Was hast du vor?«, fragt Lis.
»Das, was eine Frau eben tun muss.«
»Du gehst jetzt aber nicht zu -«, beginnt Lis.
»Doch. Ich muss sie sehen.«
»Hast du nicht gehört, was ich eben über dieses Flittchen gesagt habe?« Lis schaut mich vorwurfsvoll an, doch ich ignoriere sie. Soll sie denken, was sie will. Ich tue das, was sich für mich richtig anfühlt.

Keine zwei Minuten später klopfe ich an Claudias Zimmertür. Sie öffnet so schnell, als habe sie hinter der Tür auf mich gewartet.
»Endlich!« Sie zieht mich ins Zimmer. Ein kurzer Blick verrät mir, dass sie allein ist. Perfekt! Claudia schließt die Tür und drückt mich mit dem Rücken dagegen. Ihr Körper presst sich gegen meinen. Ich spüre ihre Hitze, die auf mich übergeht. Ihre Lippen suchen meine.
»Halt!« Ich schiebe sie unsanft von mir.
Sie schaut mich fragend an und hält den Kopf schief. »Bist du nicht deswegen gekommen?«
»Doch«, versichere ich ihr. »Aber zuvor möchte ich die Wahrheit wissen. Was wollte Sam vorhin von dir?«

Freche Mädchen küssen besser (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt