49. Kapitel: Wut macht Mut

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Es wird draußen bereits dunkel. Ich schäme mich ein bisschen, als ich in Dr. Siepers' Wartezimmer zurückkehre. Da niemand sonst da ist, komme ich schnell an die Reihe.
»Ich dachte schon, Sie seien heimgegangen«, bemerkt der Arzt mit einem Augenzwinkern.
Ich schüttle den Kopf und presse die Lippen aufeinander. Dieser Arsch! So charmant wie der tut, ist es kein Wunder, dass Claudia sich damals in ihn verknallt hat.
Dr. Siepers steht auf und kommt um seinen Schreibtisch herum. »Na, dann wollen wir uns Ihre Verletzung mal ansehen.« Er beugt sich herunter und nimmt meine Hand. »Tut es weh, wenn Sie die Finger bewegen?«
Ich nicke stumm. Am liebsten würde ich ihm ins Gesicht spucken. Wieso hat er Claudia so mies behandelt? Sie hätte seinetwegen beinahe wieder einen Selbstmordversuch unternommen. Zumindest hat sie daran gedacht. Hätte er mit ihr nicht sensibler umgehen können? Er muss doch gewusst haben, wie zerbrechlich sie war.
Dr. Siepers stellt mir noch weitere Fragen und untersucht meine Hand, was immer wieder einen heftigen Schmerz durch meine Finger jagt.
Ich gebe knappe Antworten und hoffe, dass es bald vorbei ist und ich mit Claudia zurück zum Internat fahren kann. Ich will doch wissen, wie ihre Geschichte weitergeht.
»Okay, ich glaube, die Hand ist nur geprellt. Aber um sicherzugehen sollten wir sie noch röntgen lassen. Die Radiologie ist im dritten Stock, also die Etage oben drüber. Danach kommen Sie bitte mit den Röntgenbildern zu mir.«
Ich fluche innerlich. Wieso muss das jetzt auch noch geröntgt werden? Das dauert bestimmt Ewigkeiten. Doch Dr. Siepers schaut so entschlossen, dass ich mich nicht traue, mich ihm zu widersetzen. Schließlich ist er der Arzt und ich nur die Dumme, die mit ihrer Faust gegen die Wand geboxt hat. 


Ich verlasse die Ambulanz und fahre mit dem Aufzug ein Stockwerk höher. Die ganze Zeit geht mir Claudia im Kopf herum. Ich hätte nie im Leben erwartet, dass sie es als Kind so schwer gehabt hatte. Ich dachte, sie hätte schon immer wie ein Topmodel ausgesehen und wäre beliebt gewesen. Fragen drängen sich auf. Fragen danach, warum sie jetzt in die gegenteilige Rolle ihres früheren Ichs geschlüpft ist und warum sie Uli so scheiße behandelt, wobei sie doch selbst einmal dick und unbeliebt war. Sie müsste doch in Uli mehr erkennen als nur einen Loser. Mir wird bewusst, dass ich zu Uli heute auch nicht nett war und fühle mich furchtbar. Aber gleichzeitig weiß ich auch, dass Claudia mir womöglich nie ihre Geschichte anvertraut hätte, wenn ich mich gegen sie entschieden hätte. In mir spüre ich ein wohliges Ziehen. Claudia ist mir nicht egal und es ist nicht nur der Sex, weshalb ich gerne Zeit mit ihr verbringe. Sie tut mir leid und ich möchte nicht, dass sie jemals wieder so sehr verletzt wird. Ich möchte sie beschützen, so verrückt das auch klingt. Eigentlich ist es ja Claudia, die mich ständig beschützt und nach außen hin strotzt sie nur so vor Selbstbewusstsein. Aber ich möchte die Claudia innen drin beschützen. Das kleine verzweifelte Mädchen. Denn ich werde das Gefühl nicht los, dass das dort immer noch lebt. Auch wenn Claudia sich das nicht anmerken lassen will. 


Das Röntgen geht schneller vorbei, als gedacht. Ich muss nur etwa zehn Minuten warten, dann bin ich dran. Ich habe ein bisschen Angst davor, weil ich mich noch nie röntgen lassen musste, aber es ist völlig harmlos und mein klopfendes Herz kommt zur Ruhe. Danach muss ich nochmals kurz in den Wartebereich. Hoffentlich ist mit meiner Hand alles in Ordnung. Wenn die mich jetzt hierbehalten ... nein, das darf einfach nicht geschehen. Um mich abzulenken schicke ich Claudia eine Nachricht. Ich frage sie nach ihrem Befinden. Sie schreibt zurück, dass alles okay sei und schickt mir ein Foto von einer Tasse Kaffee, an dessen Oberfläche ein Blatt aus Milch schwimmt. Ich muss lächeln und freue mich, dass es ihr gut geht. Wir schreiben noch ein bisschen hin und her, aber nur oberflächliches Blahblah. Ich traue mich nicht, ihr meine bohrenden Fragen in einer Nachricht zu stellen. Ich möchte das lieber persönlich tun, nachher, wenn wir genügend Zeit haben und ich nicht jeden Moment damit rechnen muss, dass jemand mein Handy entdeckt oder ich zurück zu Dr. Siepers geschickt werde. Schließlich bekomme ich meine Röntgenbilder und mache mich auf den Weg nach unten. 

Freche Mädchen küssen besser (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt