16. Kapitel: Loch im Herz

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„Bitte bestrafen Sie Sam nicht. Sie hat es meinetwegen getan."

„Deinetwegen? Wie meinst du das?"

Ich räuspere mich und spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt, als ich sage: „Wir haben uns als lesbisch geoutet und Sven und ein paar andere Jungs haben uns daraufhin gemobbt. Sam wollte mich nur schützen. Mangelnde Toleranz dürfen wir nicht unterstützen. Das kann doch nicht in ihrem Sinne sein, oder?"

Frau Pätzold sieht mich lange an, dann seufzt sie und sagt: „Gut, Samantha. Setz dich wieder hin. Aber versprich mir, dass du nie mehr handgreiflich wirst. Gewalt ist keine Lösung."

Sam atmet erleichtert aus und trottet zu ihrem Platz, allerdings nicht ohne mir ein dankbares Lächeln zu schenken, das in mir sofort ein wohlig warmes Gefühl auslöst.

Den Rest des Unterrichts sprechen wir über das Thema Homosexualität. Frau Pätzold ist überraschend offen und versucht, gemeinsam mit uns Vorurteile zu sammeln und diese dann zu widerlegen. Ich bin ihr sehr dankbar für diese Unterrichtsstunde und nach einer Weile machen auch die Jungs mit.

Die Zeit vergeht und die Herbstferien nähern sich. Am letzten Schultag hängen Sam und ich zusammen wie die Kletten. Wir genießen jeden einzelnen Moment miteinander. Trotzdem bin ich traurig, dass ich sie bald zwei Wochen nicht sehen werde. Wie soll ich das bloß aushalten? Als wir unsere Koffer packen, spüre ich, dass ich Sam, Lis und May schon jetzt tierisch vermisse. Ich seufze laut und als Sam mich fragt, was los sei, antworte ich: „Ihr fehlt mir einfach. Das werden die schlimmsten Ferien meines Lebens."

Sam lächelt und streicht mir zärtlich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Hey, es sind nur zwei Wochen. Die gehen ruckzuck rum, du wirst schon sehen."

Ich nicke stumm und widme mich wieder meinem Koffer. „Nehmt ihr eigentlich Schulbücher mit? Lernt ihr in den Ferien?"

„Spinnst du?", lacht Lis. „In den Ferien werde ich alles tun, aber ganz bestimmt nicht lernen."

„Hast recht", gebe ich zu und lasse die Schulbücher in meinem Schrank verschwinden, der bis auf ein paar Unterhosen und Socken ganz leergeräumt ist. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und stelle fest, dass mir noch eine Stunde bleibt, bis mein Vater mich abholen wird. Ein bisschen freue ich mich ja schon darauf, ihn wiederzusehen. Aber das bedeutet auch, dass ich mit ihm das Gespräch suchen und mich vor ihm outen muss und davor habe ich ein bisschen Angst. Bisher war Homosexualität in meiner Familie kein Thema gewesen, ich hatte noch nie mit ihm darüber gesprochen und wusste gar nicht, wie er darauf reagieren könnte. Doch das wird sich jetzt ändern und ich halte die Autofahrt für perfekt dafür, es sei denn, Sabine ist dabei. Dann würde ich warten, bis ich mit meinem Vater allein war.

Die letzte gemeinsame Stunde verbringen Sam und ich mit einem kleinen Spaziergang. Arm in Arm streifen wir durch den Herbstwald und bewundern das bunte Laub der Bäume. Auf ein paar Stämmen lassen wir uns nieder und kuscheln uns aneinander.

„Ich liebe den Herbst", seufze ich und ein Blatt fällt von einem Baum direkt in meinen Schoß. Ich halte es fest und begutachte es. Es ist ein rotes Ahornblatt mit gelben Spitzen. Mit einem Lächeln reiche ich es Sam. „Hier, das ist für dich. Dass du mich in den Ferien nicht vergisst."

Sam nimmt das Blatt und dreht es in den Fingern. „Wie könnte ich dich vergessen? Du bist doch meine Prinzessin."

Ich verziehe das Gesicht. „Piratin wäre mir lieber."

„Ja?" Sam lacht leise. „Dann bist du eben meine sexy Piratin, die mit mir auf Schatzsuche fährt."

„Das klingt gut." Ich lege meinen Kopf auf ihre Schulter und schließe die Augen. Tief atme ich den Geruch nach Holz, Nadeln und Blätter ein und versuche, den Moment festzuhalten. Doch er verfliegt viel zu schnell und es wird Zeit, wieder zurück zum Internat zu kehren und auf unsere Eltern zu warten.

Wenig später sitzen wir mit Lis, May und Uli auf den Treppenstufen vor St. Lucia und beobachten die Autos, die nach und nach vor der Schule parken. Uli wird als erster abgeholt. Sein Vater ist genauso dick wie er, aber er ist nett und scheint sich zu freuen, dass Uli doch noch Freunde gefunden hat. Dann folgen Mays Eltern, die mit einem vollgepackten Toyota vorfahren. Anscheinend geht es gleich direkt zum Flughafen und dann nach Teneriffa. Schließlich wird auch Lis abgeholt und nur noch Sam und ich bleiben übrig. Wir halten die ganze Zeit über Händchen und ich habe einen fetten Kloß in der Kehle, der bei jedem Schlucken höllisch schmerzt.

Eine BMW Limousine mit getönten Scheiben fährt vor und ein schwarzgekleideter Mann springt aus dem Auto. Sam erhebt sich und zieht mich mit sich hoch, weil sie meine Hand noch immer hält. „Hallo, Johannes", sagt sie.

„Dein Vater?", frage ich, irritiert darüber, dass sie ihn mit Vornamen anspricht.

Sam schüttelt den Kopf. „Nein, nur unser Chauffeur." Sie klingt dabei ein bisschen traurig.

Es tut mir leid für Sam, dass sie nicht von ihren Eltern abgeholt wird. Das hinterlässt bei mir fast den Eindruck, als sei Sam ihnen egal. Aber sie hatte ja erwähnt, dass ihre Eltern in den USA waren. Sam sieht mir tief in die Augen und streicht mit der Hand über mein Gesicht. Dann zieht sie mich an sich heran und drückt ihre weichen Lippen auf meine. Ihr Kuss kribbelt auf meinem Mund, ich schmecke einen Hauch von Minze und mein ganzer Körper wird von einer Gänsehaut überzogen. Sie küsst mich mit solch einer Hingabe, dass mir ganz schwindelig wird. Dann löst sie sich von mir, streicht mir mit dem Daumen über das Kinn und flüstert: „Ich liebe dich."

Mein Herz macht einen Hüpfer. „Ich dich auch." Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen schießen. Ob vor Rührung oder Traurigkeit, weiß ich in diesem Moment nicht.

„Pass auf dich auf, ja?" Sam bedenkt mich mit einem sanften Lächeln. Ich bringe nicht mehr als ein Nicken zustande.

Johannes lädt Sams Gepäck in den Kofferraum und hält ihr dann die Autotür zum Rücksitz auf. Doch Sam lässt ihn einfach stehen, öffnet die Tür zum Beifahrersitz und steigt ein. Ich muss grinsen. Typisch Sam, sie macht einfach, was sie will. Johannes schließt die Tür und setzt sich ebenfalls wieder ins Auto. Der Motor heult auf und das Gefährt setzt sich in Bewegung. Sam lässt die Fensterscheibe herunter und winkt mir zum Abschied. Ich winke ihr nach, bis das Auto hinter einer Wegbiegung verschwindet. Tränen laufen mir über die Wangen. Dort, wo sonst mein Herz schlägt, klafft nun ein riesiges Loch. Ein Loch, das ich zwei Wochen lang nicht zu stopfen vermag. Ich wische mir die Tränen aus den Augen und setze mich wieder auf die Treppe. Doch der Kloß in meinem Hals schwillt immer mehr an und ich habe das Gefühl, gleich ersticken zu müssen. Wo bleibt nur mein Vater? Der Schulparkplatz leert sich immer mehr, doch von meinem Vater ist nichts zu sehen. Nach einer Weile stehe ich auf und tigere unruhig hin und her. Ob er mich vergessen hat? Nein, das würde ihm niemals passieren. Vielleicht ist ja unterwegs Stau. Das kann doch sein. Oder er hat sich verfahren, weil sein Navi mal wieder ausgefallen ist. Das alte Ding hat nämlich einen Wackelkontakt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit biegt endlich ein mir wohlbekannter Wagen um die Ecke. Ich packe mein Gepäck und eile auf ihn zu. Er parkt vor mir und jemand steigt aus. Ich hebe den Blick: Es ist Sabine. Mein Vater ist nicht dabei.


Freche Mädchen küssen besser (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt