Die Märchenwaldkönigin mit den blutroten Lippen

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Kitsune wusste nicht, wohin ihn die Männer brachten, aber er vermutete, dass es Handlanger der Märchenwaldkönigin waren. Selena hatte ihm erzählt, dass sieben Männer für sie arbeiteten und es waren genau sieben Männer, die sich wie Schatten durch den Wald bewegten und ihn entführt hatten. Er hatte sie nicht mal kommen sehen, bis einer von ihnen direkt vor ihm aufgetaucht war. Wie aus dem Nichts!
Kitsune hatte kaum Zeit gehabt zu reagieren, außer einem sehr verschreckten schrillen Schrei von sich zu lassen. Einen Augenblick später war er in einem kleinen Metallkäfig, der seine Magie unterdrückte, gesperrt worden und hatte mitangesehen, wie er von Hel weggebracht wurde.
Er hatte nach ihr geschrien so laut er konnte, aber sie hatte ihn nicht gehört, während die Männer sich in Windeseile weiter von ihr entfernt hatten, bis Kitsune sie aus den Augen verloren hatte.
Ihm war schlecht vor Angst und er konnte es nicht fassen, dass er bereits zweimal in den letzten zwei Tagen entführt wurde! Erst von Grerr und jetzt von diesen seltsamen Männern.
Kitsune schaute zu den zwei Männern, die seinen Metallkäfig zwischen sich hielten, während sie durch den Wald stampften. Kitsune hatte Probleme sich auf den Beinen zu halten, weil der Käfig so sehr wackelte und er ständig das Gleichgewicht verlor. Daher hatte er beschlossen sich einfach hinzusetzen.
Er hatte fürchterliche Angst, doch er wollte es auf gar keinen Fall diesen sieben Männern zeigen. Zur Ablenkung sah Kitsune sich um und entdeckte eine junge Frau mit einem Sack über ihren Kopf. Sie war gefesselt und lief zwischen zwei anderen Männern, die sie an den Oberarmen festhielten.
Kitsune hatte so viele Fragen: Wer war diese Frau? Wer waren diese Männer? Waren sie Menschen oder andere Wesen? Warum konnten sie sich wie Schatten ungesehen durch den Wald bewegen? Würde sie ihn zur Märchenwaldkönigin bringen? Und was würde diese Königin mit ihm machen?
Doch Kitsune schwieg und frass die Fragen in sich hinein, denn seine Mutter hatte seinen Geschwistern und ihn von klein auf gesagt, dass sie niemals sprechen sollten, wenn sie gefangen genommen werden sollten. Denn so hatten sie stets einen Vorteil, der ihnen später vielleicht helfen würde.
Mit schmerzenden Herzen dachte er an seine Mutter, die er schrecklich vermisste, obwohl sie so gemein zu ihm gewesen war. Aber immerhin war sie seine Mutter. Und Mütter wollten doch immer nur das Beste für ihre Kinder, oder?
Kitsune merkte, wie Tränen in seinen Augen brannten und er schüttelte energisch den Kopf. Er würde jetzt nicht weinen!
Stattdessen dachte er an Selena, die in den Wald verschwunden war. Er hoffte, dass es ihr gut ginge. Er hoffte, dass sie noch lebte und ihn retten würde. Irgendwie hatte er die Wölfin gerne. Immerhin behandelte sie ihn gut und war nett zu ihm. Netter als jemals jemand zuvor.
Diese Totengöttin allerdings war genauso gemein wie Kitsunes Geschwister. Sie nahm ihn nicht ernst und beleidigte ihn.
Fuchsbaby, dachte er wütend. Er war KEIN Baby mehr! Er hasste, dass sie ihn so nannte. Aber er hasste noch mehr, dass sie Recht hatte. Er hatte sich wirklich wie ein Baby benommen. Er hatte sich hinter Selena oder ihr versteckt. Er war ängstlich gewesen und hatte sich darauf verlassen, dass die anderen ihn beschützten. Genauso hatte er sich auch immer bei seinem Geschwistern verhalten.
Selbst jetzt saß er hier in diesem Käfig und war kurz davor zu weinen. Wie ein kleiner Feigling zitterte er und hoffte auf Rettung.
So verhält sich bestimmt kein Held, dachte er verbittert und schwor sich, dass er absofort mutiger sein musste. Er dachte an Selenas Worte und was es bedeutete ein Held zu sein. Die Wölfin war sehr weise und, auch wenn sie es nie zugeben würde, war sie mehr eine Heldin als alle anderen Wesen, denen Kitsune jemals begegnet war. Zugegebenermaßen waren es nicht viele Wesen, aber das erschien ihm nicht wichtig.
Kitsune kratzte allen Mut zusammen, den er aufbringen konnte und begann den Gesprächen der Männer zu lauschen. Vielleicht würde er etwas herausfinden, das ihn helfen konnte, zu fliehen. Oder vielleicht würde er sogar etwas wegen der griechischen Mythologie erfahren?
„Unsere Königin wird sehr zufrieden mit uns sein", flötete der Mann zur linken von Kitsunes Käfig. „Sie wird uns sicherlich belohnen, Brüder!"
Die anderen stimmten mit einem lauten „Ay!" zu.
Kitsune musterte die Männer aufmerksam, die seinen Käfig trugen. Sie waren klein und stämmig gebaut. Ihre nackten Arme waren muskulös und mit Narben und Brandmalen übersät. Kitsune fragte sich, ob diese Wunden von Kämpfen kamen.
Einer von den Männern hatte sogar einen metallenen Stock anstelle seines linken Beines. Ein anderer trug eine Augenklappe. Und wieder ein anderer hatte nur noch einen Arm. Sie wirkten wie eine Bande wilder Räuber, die überraschend gerne sang.
Während des gesamten Weges sangen die Männer diverse Lieder, die Kitsune noch nie zuvor gehört hatte. Meistens handelten sie von der Königin, die sie alle vergötterten, weil sie so wunderschön war. Kitsunes Neugier auf die Märchenwaldkönigin stieg zunehmend an und verdrängte ein wenig seine Angst. Laut den Liedern der sieben Männer musste die Märchenwaldkönigin die schönste und netteste Frau sein, die jemals auf dieser Erde gewandert ist. Nicht, dass Kitsune darin Erfahrung hätte. Er machte sich nichts aus Menschen und fand, dass die alle gleich aussahen. Außerdem war seine Definition von „schön", wie viele Fuchsschwänze man hatte oder wie glänzend und gepflegt das Fell war.
Nach einer Weile kamen sie auf einer Waldlichtung an. Die Sonne stand hoch am Himmel und durchflutete die Lichtung mit ihren warmen Strahlen. Es wirkte wie eine wunderschöne Oase in dem dunklen Wald. Kitsune schaute sich ungläubig um. Ein weiß-rotes Haus stand in mitten der Lichtung. Bunte Blumenbeete umgaben es und ein weißer Zaun rahmte es ein. Es wirkte wie aus einem Bilderbuch, wenn man nach einem perfekten Landhäuschen suchte.
Die sieben Männer brachten Kitsune und die Frau mit dem Sack auf den Kopf zum Gartentor. Vorsichtig öffneten sie das Tor und gingen auf einem gepflasterten Weg direkt zur Haustür. Der Geruch der Blumen stieg Kitsune in die Nase und er kam sich vor wie in einer Parallelwelt. Hier wirkte alles so ruhig, schön und heimelig. Hier könnte Kitsune sich vorstellen zu leben. Er bewunderte die Schmetterlinge, die durch die Blumen flatterten und lauschten den Vogelgesang.
Vielleicht ist die Märchenwaldkönigin nicht so schlimm, wie Selena behauptet?, dachte Kitsune. Vielleicht ist sie wirklich so nett wie aus den Liedern?
Die sieben Männer wurden auf einmal sehr leise. Sie flüsterten einander zu, während sie ihre Schuhe an der Fußmatte abstreiften. Dann zogen sie alle ihre Schuhe aus und packten diese in ein Regal, das links neben der Haustür angebracht war. Alles schien seinen Platz zu haben und die Männer waren sehr darauf bedacht, keinen Dreck zu machen.
Als sie in das Haus traten, stieg Kitsune der Geruch von frisch gebackenen Kuchen in die Nase. Sein Magen begann zu knurren, während die Männer ihre Waffen und Mäntel mit ebenso großer Sorgfalt an die Haken hingen und in den Schrank verstauten.
Kitsunes Käfig wurde auf einen kleinen Beistelltisch abgestellt, der unter seinem Gewicht knarzte. Von dort konnte er in den schmalen Flur schauen und entdeckte am Ende des Korridors eine halb geöffnete Tür. Von dort hörte er Geschirr klappern und eine weibliche Stimme, die rief: „Oh! Meine Lieblinge! Endlich seid ihr zurück!"
Kitsune drängte sich enger an die Käfigstäbe, um einen besseren Blick auf die Märchenwaldkönigin erhaschen zu können. Er hörte eilige Schritte. Die Männer lächelten glücklich und strichen sich rasch ihre dunkle Kleidung zurecht.
„Ja, Eure Hoheit. Wir haben gleich zwei Überraschungen für Euch!", erwiderte der Mann mit der Augenklappe laut, während die anderen sich in Reih und Glied hinter ihm aufstellten. Kitsune neigte den Kopf. So wie sich die Männer benahmen erinnerte es ihn stark an seine Geschwister und ihn, wenn sie zu ihrer Mutter in den Bau zurückkamen. Allerdings hatte ihre Mutter sie nie „Lieblinge" genannt.
Dann wurde die Tür mit einem Ruck geöffnet. Eine Frau mit schwarzem langem Haar, das ihr in weichen Wellen über die Schultern glitt, und weiblichen, üppigen Rundungen erschien im Flur. Sie trug ein blaues Kleid und darüber eine weiße Schürze. An ihren Handgelenken klimperten goldene Armreife und ihr Gesicht war auffällig geschminkt. Ihre Wangen gerötet und die Lippen knallrot. Sie lächelte warmherzig und Kitsune blinzelte sie nur an.
„OH! Und ihr habt mir etwas mitgebracht!", rief sie aufgeregt und klatschte in die Hände, als sie durch den Flur auf sie zu eilte. Ihre Hüften schwangen hin und her. Kitsune konnte sich vorstellen, dass Menschen sie schön fanden, aber er wusste noch nicht so recht, was er davon halten sollte.
Die Königin blieb vor Kitsunes Käfig stehen und schaute zu ihm hinab, als wäre er das wunderbarste Wesen, das sie jemals gesehen hatte. Kitsune musste gestehen, dass er sich geschmeichelt fühlte.
Die Königin beugte sich zu ihm vor und lächelte. „Was bist du denn für ein wunderbares Wesen, mein Kleiner?"
Kitsune zögerte, während die hellblauen Augen der Königin über ihn glitten. Sie inspizierten ihn und es erinnerte ihn an seine Mutter, die auf dieselbe Art Essen angeschaut hatte. Etwas Lüsternes lag in ihren Augen, das Kitsune unwohl werden ließ.
„Mmh ... du scheinst mir ein aufgewecktes Kerlchen zu sein. Und was für schöne Fuchsschwänze du hast! Gleich zwei davon. Das scheint mir doch etwas sehr besonderes zu sein."
„Eure Hoheit", meldete sich der Mann mit der Augenklappe zu Wort. „Meine Brüder und ich sind uns sicher, dass er reden kann. Wir haben es selbst gehört. Allerdings hat er sich bis jetzt geweigert mit uns zu reden."
Die Königin nickte und löste ihren Blick nicht von Kitsune, dem immer unbehaglicher wurde. Er wich so weit in dem Käfig zurück, wie er konnte. Es war seltsam. Das Lächeln und Benehmen der Königin war herzlich und warm, doch es war etwas in ihren Augen, das ihm Angst machte.
„Ihr habt ihn im Wald gefunden?", fragte sie mit weicher Stimme, aber ihre Miene verdunkelte sich.
„Ja, Eure Hoheit."
„War er alleine?"
„Nein, er war mit einem entstellten Mädchen, das natürlich bei Weitem nicht an Eure Schönheit rankommt."
Die Königin wandte sich an den Augenklappen-Mann, der anscheinend der Anführer der Männer war. Denn er war der Einzige, der mit der Königin sprach.
„Ein entstelltes Mädchen war mit ihm im Wald?"
„Ja, Eure Hoheit ... und ein toter Wolf."
„Was für ein Wolf?"
Die Stimme der Königin änderte sich. Sie schnitt durch den Raum wie ein Messer und alle Geräusche schienen zu verstummen. Die Männer erstarrten. Der Anführer begann zu zittern und Kitsune roch seinen Angstschweiß.
„Ehm ... ich vermute, es war einer Eurer Schattenwölfe, Eure Hoheit."
„Du vermutest?"
„Ich ... ich ..."
Mit Schrecken beobachtete Kitsune, wie die Königin das Handgelenk des Mannes ergriff, es zu sich zog und mit der anderen Hand in ihre Schürzentasche griff. Sie holte ein Küchenmesser hervor und legte es an den Daumen des Mannes. Die anderen sechs Männer schwiegen und schauten zu Boden, während ihr Anführer erblasste.
Die Königin überragte den Mann um beinahe zwei Köpfe und lehnte sich jetzt bedrohlich über ihn. Ihr Lächeln war immer noch warm und freundlich, doch ihre Augen waren kalt und berechnend.
Kitsunes Herz begann zu rasen, als die Königin das Messer in die Haut des Mannes drückte. Der Mann presste die Lippen aufeinander, sagte aber nichts.
„Liebling, ...", begann die Königin lächelnd. „... du weißt doch, wie unangenehm ich werden kann, wenn Arbeit nicht ordentlich gemacht wird."
„Ja, Eure Hoheit."
„Und du weißt hoffentlich auch, wie ungern ich dich dafür bestrafe ... dass ich keinen Gefallen daran finde, nicht wahr, Liebling?"
„Ja, Eure Hoheit. Ihr wollt nur das Beste für uns."
Die Königin nickte. „Genau, Liebling. Also verstehst du, dass ich das tun muss, nicht wahr? Dass unordentliches Arbeiten bestraft werden muss?"
Der Mann nickte und Schweiß trat auf seine Stirn. Sein Körper war angespannt und Kitsune wurde mit einem Mal bewusst, dass all die Lieder nicht der Wahrheit entsprachen. Die Königin holte aus mit dem Messer und ...
„HALT!", kreischte Kitsune und ergriff die Käfiggitter. Sein rasender Puls rauschte in seinen Ohren. „Halt, nicht! Es war ein Schattenwolf! Es war einer der Wölfe, die geschickt wurden, um Selena umzubringen. Doch Selena hat ihn getötet. Dem anderen haben Hel und ich den Talisman abgenommen und dann ist er in den Wald abgehaut ..."
Kitsune verstummte wieder, während die Königin und Augenklappe ihn anschauten. Er wusste nicht, was über ihn gekommen war. Es war einfach so alles aus ihm herausgeplatzt.
„Oh, er kann also doch reden", stellte die Königin schmunzelnd fest. „Und wie redselig er doch ist."
„Bitte, tue dem Mann nicht weh", flehte Kitsune. Die Königin bedachte ihn mit einem tadelnden Blick.
„Ts, ts, ts, solche schlechten Manieren. Spricht man denn so mit einer Königin?"
Kitsune wich zurück, als sie sich zu seinem Käfig beugte. „Schau gut hin, mein kleiner Fuchs, denn wenn DU dich falsch benimmst, dann wirst auch du bestraft. So ist es eben. Alles muss seine Ordnung haben und als gerechte Königin muss ich dafür sorgen, dass diese auch eingehalten wird ..." Damit drehte sie sich um und durchtrennte den Daumen des Mannes mit einem schnellen Hieb. Der Mann schrie auf vor Schmerzen und sank auf die Knie. Blut spritzte über die Königin, als sie den abgetrennten Daumen in ihre Schürze steckte und sich an Kitsune wandte. „Das verstehst du hoffentlich, oder, mein kleiner Freund?"
Kitsune starrte die Königin an und versuchte sich nicht zu übergeben. In ihren schneeweißen Gesicht waren Blutspritzer, die sie bedächtig mit ihrer Schürze abtupfte.
„Verstehst du das, Fuchsdämon?", wiederholte sie mit strengerer Stimme. Kitsune schluckte und nickte.
„Gut", meinte sie und grinste. Sie lehnte sich vor und legte eine Hand auf den Käfig. Ihr Lächeln gab Kitsune bereits jetzt schon Alpträume, doch er wusste auch, dass das, was dahinter steckte noch sehr viel grausamer und schrecklicher war. Diese Frau löste in ihm eine Todesangst aus, die er noch nie zuvor verspürt hatte.
„Und jetzt ...", erklärte die Königin kichernd. „... essen wir erstmal Kuchen und du erzählst mir ALLES über unsere gemeinsame Freundin Selena."

Die drei Mythengetiere Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt