Zweite Chance

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Ring...Ring...Ring. Stöhnend öffnete ich meine Augen. Das Licht war viel zu hell und das Bett samt Nico viel zu bequem, um es zu verlassen. „Was ist das?", fragte ich irritiert. „Mein Handy...irgendjemand bombardiert es gerade mit Nachrichten". Er wollte es schon irgendwo verschwinden lassen, als es plötzlich zu klingeln begann. „Wer zum Teufel will so früh was von dir?", fragte ich und zog die Decke über mich. „Weiß ich auch nicht". Ich hörte wie er das Gespräch annahm und sich etwas genervt meldete. „May?", fragte er dann plötzlich. Ich zog die Decke von meinem Kopf und warf Nico einen fragenden Blick zu. Er zuckte mit den Schultern, offenbar war er genauso planlos wie ich. „Ja, ja sie ist bei mir", er reichte mir sein Handy rüber. Ich hielt es an mein Ohr. „Was ist los May?", fragte ich. „Ich versuche dich schon die ganze Zeit über zu erreichen, warum gehst du nicht ran?" „Ich habe mein Handy in meinem Zimmer liegenlassen", antwortete ich „Okay, wie auch immer, Details kannst du mir später erzählen. Ich habe einen Platz im IM für dich organisiert", drang es aus dem Hörer. Platz...im IM...schlagartig wurde mir klar, was das zu bedeuten hatte. „Was?!", schrie ich beinahe in das Gerät. „Aber...wie?" „Ist doch im Moment egal. „Komm auf der Stelle rüber! Sonst schaffen wir es nicht mehr". Ich warf das Handy beiseite und sprang aus dem Bett. Hastig schlüpfte ich in meine Shorts und schnürte die Turnschuhe an meine bloßen Füße. „Was ist denn los?". Nico verstand die Welt nicht mehr. „Ich habe einen Platz im IM!", schrie ich. „Ich liebe dich Nico!" rief ich zum Abschied, während ich bereits aus der Tür stürzte.

Ich stürmte den Gang hinunter. Auf halber Strecke zum Ausgang kam mir jemand bekanntes entgegen „Sofia?", fragte Chris verwundert „Ich habe einen Platz im IM!", rief ich überglücklich, während ich an ihm vorbeirannte. „Äh, was?", doch ich war schon aus dem Wohnheim draußen und sprintete über den Campus.

Mein eigenes Wohnheim kam in Sicht. May kam gerade heraus. Sie hatte meine Schwimmtasche bei sich „Zum Parkplatz!", rief sie und ich änderte die Richtung. Fast gleichzeitig kamen wir an ihrem kleinen Weißen Flitzer an. Sie warf mir die Tasche zu und ich stieg mit ihr auf der Beifahrerseite ein. Ich war noch nicht mal angeschnallt, da legte sie schon den Gang an und schoss auf die Straße.

„Jetzt erzähl mal, wie, was, warum hast du mich ins IM bekommen?", fragte ich aufgeregt, während sie gerade die Fahrspur wechselte. „Du hast gestern gesagt, dass alle anderen eine zweite Chance hatten, bloß du nicht. Ich fand das im Nachhinein auch ziemlich unfair, also habe ich mir überlegt, was ich dagegen tun könnte. Die Freestyle Wettkämpfe waren vorbei, also blieb nur das IM", erklärte sie, während sie die Fahrbahn im Rückspiegel beobachtete. „Aber ich habe mich dafür doch gar nicht in der Vorrunde qualifiziert", sagte ich „Wie hast du die Richter davon überzeugt mich starten zu lassen?" Sie grinste verschmitzt. „Unterschätze niemals deine beste Freundin, denn ich kann sehr überzeugend sein. Ich habe gestern Abend ziemlich viel herumtelefoniert und ihnen schließlich das Video von deinem IM zukommen lassen. Die Organisatoren vom Turnier waren so begeistert von dir, dass sie dir diese einmalige Chance geben wollen, auch wenn es eigentlich gegen die Regeln ist", sie sah mich von der Seite an „Ich habe dich in den Himmel und zurück gelobt, also gib dein bestes heute, sonst kann ich mich auf dem nächsten Turnier nicht mehr blicken lassen" „Das werde ich", versicherte ich ihr „Ich glaube ich liebe dich May!" „Nein. Du hast mich lieb, aber lieben tust du Nico, nicht wahr?", lachte sie. Ich sah an mir herab und merkte, dass ich immer noch sein T-Shirt trug „Da hast du auch wieder recht" „Erzähl mir alles!", forderte sie mich auf und nach einem kurzen Blick auf mein ziemlich zerknirschtes Erscheinungsbild fügte sie noch hinzu „Und bring am besten währenddessen dein äußeres etwas unter Kontrolle. Ich habe alles in deine Tasche gepackt" „Danke May", sagte ich und begann zu erzählen, während ich mein Oberteil wechselte und meine Haare bändigte.

„Ich wusste es. Ich wusste es. Ich wusste es!", sagte May triumphierend, als ich am Ende meiner Geschichte angekommen war „Du und Nico seit einfach füreinander geschaffen". „Genauso wie du für Chris", sie lächelte, als ich ihren Freund erwähnte. „Den habe ich wahrscheinlich heute Morgen ziemlich erschreckt", sagte ich „Ach echt? Wie das denn?" „Ich habe ihn auf dem Gang fast umgerannt. Als er mich erkannt hat, hat er die Welt wohl nicht mehr ganz kapiert" Wir beide lachten laut los. „Dem werden wir wohl später einiges erklären dürfen".

Zehn Minuten bevor das IM der Frauen begann erreichten wir endlich das Stadion. „Geh raus und gewinn das! Ich kümmere mich um alles weitere", sagte May. Ich stürmte an verwunderten Security Leuten vorbei in die Damenumkleide. Noch nie hatte ich mich so schnell umgezogen, unter die Dusche gestellt und Badekappe und Schwimmbrille auf.

„Und wer bist du?", fragte die unfreundliche Frau in der roten Jacke „Sofia Frey, Ashriver Mantas", sagte ich, während ich mich dehnte. Sie blickte auf ihren Bildschirm „Du stehst nicht auf der Liste", sagte sie „Doch, ich stehe drauf", sagte ich. „Nein, da steht nichts von...", in dem Moment erschien mein Name auf dem Display. Verwundert starrte sie drauf „Sofia Frey, Ashriver Mantas, Sondererlaubnis. Tatsächlich...Dann komm mit und zieh deine Nummer". Ich folgte der Frau zu einer Gruppe Studentinnen. „Ach, wen haben wir denn da", sagte eine Stimme, die mir bekannt vorkam. Die dunkelhaarige von gestern. Na super. „Ich dachte eigentlich du würdest nur im Freestyle antreten. Willst du heute genauso wie gestern einen Fehlstart hinlegen und gegen die Wand knallen, oder hast du dir was neues überlegt?", fragte sie. Einige der anderen Mädchen lachten. Was eine Bitch. Gestern wäre ich wahrscheinlich noch entsetzt zusammengefahren, doch auf heute hatte sich einiges verändert. Ich wusste wie beschissen es sich anfühlte den letzten Platz zu machen. Ich war jetzt mit dem Jungen zusammen, den ich liebte. Meine beste Freundin hatte das Unmögliche möglich gemacht und ich hatte eine zweite Chance bekommen. Das alles würde ich mir nicht durch Nervosität kaputtmachen lassen. „Oh ja", sagte ich zuckersüß und trat einen Schritt näher an sie heran „Heute werde ich gewinnen". Sie wich zurück. Ich beachtete sie und die anderen nicht weiter und zog meine Nummer. Bahn fünf. Das war genau in der Mitte. Besser hätte ich es nicht treffen können. Ich wusste, dass ich das IM in Gegensatz zu Freistil kaum trainiert hatte, doch das war meine Chance. Die letzte die ich diese Saison bekommen würde und ich würde sie nutzen. Auf den zweihundert Metern würde ich alles geben, was ich habe.

Wir gingen an den Start. Auf den Zuschauerrängen wurde getuschelt. Selbst die Richter ließ mein Auftauchen nicht still. Ich sah auf das glatte Wasser. Es war nicht anders als das daheim. Dieser Pool war vielleicht größer und länger, aber sonst unterschied er sich nicht von dem in dem Nico und ich uns zum ersten Mal geküsst haben.

Der Pfiff ertönte und ich sprang ins Wasser, so wie ich es hunderte Mal bei Chris beobachtet hatte. Ich stemmte meine Füße gegen die Wand und atmete tief durch. Ein, Zwei, Drei Sekunden lang schärfte ich meine Sinne. Dann kam der Knall. Ich drückte mich mit voller Kraft ab und stieß schließlich durch die Wasseroberfläche. Ich schlug mit den Armen und Beinen und fand beinahe auf der Stelle meinen Rhythmus. Die Welt um mich herum verschwand. Ich hörte nicht mehr, wie meine Gegner im Wasser schlugen und spürte nicht die Bewegungen, die von ihnen ausgingen. Alles was ich fühlte war wie die Tropfen mich wie eine schützende Hülle umfingen und sich wieder teilten. Beinahe unbewusst ging ich in die Drehung und wechselte in Brust. Ich formte mit meinen Händen einen Spalt und ließ meinen Körper hindurchgleiten. Ich fühlte mich nicht länger wie in einem begrenzten Becken, sondern kam mir vor, als ob ich im unendlichen Meer treiben würde. Doch das machte mir keine Angst, im Gegenteil, es existierten keine Grenzen mehr die mich zurückhielten. Wie ein wilder Tornado drehte ich mich und tauchte mehrere Meter weit, bevor ich mich aus dem Wasser hob und meine Flügel entfaltete. Ich drückte mich nach oben und ließ mich wieder fallen. Die vielen glitzernden Tropfen umschwirrten mich wie kleine Schmetterlinge und trugen mich über die Oberfläche. Der Schwarm um mich herum verwandelte sich in einen Wirbelsturm, als ich in die Rolle glitt. Ich stieß mich ab und schoss nach vorne. Ich war frei, freier als jemals zuvor. Das Limit sind die Sterne und in diesem Moment schienen sie mich zu umkreisen und immer schneller, immer weiter in die Höhe zu heben. Ich wollte am liebsten laut lachen, denn in diesem Moment wurde mir eine Sache klar: Ich gehörte hier her. Vor mir schien sich ein leuchtendes Tor zu öffnen. Ich streckte meine Hand aus und dann berührte ich es endlich.

Ich riss mir die Badekappe vom Kopf und ließ das Wasser meine Haare berühren. In einem Funkenregen schoss ich an die Oberfläche und schüttelte die nassen Kristalle heraus. Ich lachte, denn ich war unglaublich glücklich. Ich musste nicht auf die Tafel schauen, um das Ergebnis zu erfahren, denn ich kannte es bereits. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich gewonnen hatte.


Dive in with your HeartWhere stories live. Discover now