Nähe und Notlügen

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Auch der nächste Tag verging, ohne dass Thor auftauchte.
Loki nutzte die Zeit, um sich etwas zu erholen und seine magischen Übungen zu machen, was er schmerzlich vernachlässigt hatte. Meister Erik allerdings war kurz davor ihn früher aus dem Unterricht zu entlassen, weil jeder seiner Versuche, Konzentration zu üben, nach wenigen Sekunden scheiterte.

"Du bist abgelenkt." Streng straffe Erik die Schultern und schüttelte den Kopf. "Wenn ich dein Feind wäre, wärst du jetzt tot!"
Loki seufzte lautlos. "Noch einmal."
Zugegeben, er war abgelenkt. Nach seinem Brief an Thor hatte er nichts mehr von diesem gehört und langsam glaubte er, dass ihr Abschied tatsächlich permanent sein könnte. Der Gedanke riss ihm den Boden unter den Füßen weg, so sehr er auch versuchte, ihn ins positive Licht zu rücken.
Thor war einfach vernünftig. Er hatte es eingesehen, dass ihre Treffen keinen Sinn machten.
Dachtest du, er würde kommen und versuchen deine Meinung zu ändern?
Erneut kassierte Loki die volle Breitseite eines Windstoßes, der ihn von den Füßen gegen die nächste Wand fegte. Keuchend richtete er sich auf und griff sich an die Stirn. Verdammt, wieso wollten ihm seine Gedanken nicht gehorchen?
"Das reicht für heute", beschloss Erik schließlich mit verschränkten Armen und einem Tonfall, der keine Widerrede duldete. "Komm wieder, wenn du zu mehr in der Lage bist, als herumzustehen wie ein Taugenichts."



Eine Weile später, saß Loki frustriert in seinem Zimmer und fand keine Ruhe. 
Wieso nur musste er die ganze Zeit an diesen Idioten denken, der ihn behandelte, wie einen verdammten Diener? Vielleicht weil Thor Charme hatte, einen gewissen Grad an Wagemut und nicht weniger bereit war, verrückte und verbotene Dinge zu tun, als er selbst. 
Verbotene Dinge. Ungefähr wie das, was du wirklich willst?
Was wollte er denn wirklich? Schwer zu sagen, bei der Geschwindigkeit, mit der seine Gedanken durch seinen Schädel rasten. Er wusste nur, er hatte den Donnergott loswerden wollen und das hatte er erstaunlich erfolgreich gemeistert, wie es schien.
Schon wieder begannen seine Gedanken sich im Kreis zu drehen, aber all das Grübeln brachte rein gar nichts. Er brauchte wohl einfach frische Luft. Seufzend klappte Loki den alten Wälzer über Runenmagie zu, durchquerte sein kleines Zimmer und trat hinaus in die Nacht.

Es war dunkel auf dem kleinen Weg vor seinem Zimmer und wie immer lehnte Loki sich an die brusthohe Mauer, von der aus er über die halbe Tempelanlage blicken konnte; unter ihm nichts als Gestrüpp, Ruhe und Dunkelheit. Es war herrlich, ein leichter Wind ging und zum ersten Mal seit dieser blöden Feier fühlte er sich ein klein wenig leichter. Er würde das schon schaffen. Er würde über diese Sache mit Thor hinwegkommen und ...
... was waren das für Geräusche?

Skeptisch zog er beide Brauen zusammen, rutschte etwas weiter nach links und ging auf die Zehenspitzen, um besser über die Brüstung schauen zu können:
Unten bewegte sich etwas. In dem Dornenbusch, er konnte es genau sehen! Als würde jemand versuchen, an der Mauer hochzuklettern.
Ein Angriff, schoss es ihm augenblicklich durch den Kopf, doch gerade als er sich abgewandt hatte um schnellstmöglich Alarm zu schlagen, war ein bekanntes Blond in seinem Augenwinkel aufgeblitzt; an der Stelle, die er eben noch skeptisch inspiziert hatte.
Langsam setzte Loki seine Schritte zurück zu der Mauer und gerade als er wieder über die Steine lugen wollte, tauchte plötzlich Thors Gesicht vor ihm auf.

Mit einem erstickten Schrei zuckte Loki zurück, stolperte dabei wenig elegant über die Begrenzung des Gehwegs und fiel rücklings zu Boden, die Augen erschrocken aufgerissen. Sein Herz hämmerte heftig gegen seinen Brustkorb, so sehr, dass er kaum atmen konnte.
"Thor, verdammt!", fluchte er ungehalten und rieb sich den Hinterkopf. Das würde eine Beule geben.
"Loki!" Der Donnergott war sofort bei ihm, und  offensichtlich wollte er ihn ziemlich dringend sprechen, denn er machte sich nicht einmal die Mühe, ihm aufzuhelfen, sondern er kniete sich einfach neben ihn in den Dreck und packte ihn am Arm. "Loki bitte, du musst mir zuhören ... ich bin gekommen um dir zu sagen, wie leid es mir tut. Weißt du, es ist auch neu für mich. Ich mag dich sehr und du bist so anders als ich. Du bist so anders als alle! Du sagst, was du denkst, und das ist ... erfrischend und ehrlich. Ich kenne es nicht, dass man mir die Stirn bietet, aber ich mag es und ... bitte, verzeih mir. Ich wollte dir nicht das Gefühl geben, weniger wert zu sein. Im Gegenteil, du bist ..."
"Shhh! Thor, bitte ... keine Komplimente mehr!" Mit hochrotem Kopf sah Loki sich hektisch um. Er wollte ganz sicher nicht, dass jemand sie beide hier bemerkte, denn dann wäre das Desaster perfekt: Kronprinz klettert in eigenem Land wie ein Verbrecher über Tempelmauer. Wenn das mal keine perfekte Schlagzeile war. Andererseits war diese Situation derart absurd, Loki war sich nicht einmal sicher, ob Erik das überhaupt glauben würde, selbst wenn er es sah. Er glaubte es ja selbst kaum.

Langsam setzte Loki sich auf und rieb sich die zerkratzten Handflächen sauber, bevor er dem Prinzen einen finsteren Blick zuwarf. "Du schleichst dich also am letzten Tag von einem Fest zu deinen Ehren fort, brichst in den Tempel ein, kletterst über die Dornenranke, wie ein Krimineller, nur um mir das zu sagen? Ich ... ich hätte dich aus Angst töten können!"
"Es war nun einmal wichtig", drängte der Donnergott und sah sich nervös um. Er war sich dieser heiklen Lage also durchaus bewusst.

Herz über Kopf #1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt