Entscheidung

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Zusammen war ein ziemlich dehnbarer Begriff, wenn man mit dem Donnergott unterwegs war. Die Feier zu seinen Ehren hielt noch drei Tage lang an und die Halle war, wie am Abend zuvor, berstend voll mit Asen, Speisen und Getränken.
Kaum, dass Thor auf der Bildfläche erschienen war, hatten die Massen ihn belagert. Jeder wollte auf einen Trinkspruch mit dem goldenen Prinzen anstoßen und Loki merkte schnell, dass er sich besser verzog, weil er im Weg stand.
Mit einem Glas Wein streifte er stattdessen über das Fest, getroffen von fragenden Blicken, woher die Robe an ihm stammte, und fast war er verleitet eine lautstarke Ansage zu machen, dass er sie geklaut habe. Vom königlichen Hofe! Weil er nichts Besseres zu tun hatte, als lilafarbene Roben zu klauen. Na gut, diese hier war schön, aber es war einfach nicht seine Farbe.
Mürrisch leerte Loki sein zweites Glas, den Donnergott ständig im Auge. Thor hatte schon nach weniger Zeit deutlich mehr Alkohol intus, als ihm gut tat, und man konnte beobachten, wie er im Umgang mit den anderen Asen lockerer wurde. Hier ein Händeschütteln, dort ein Schulterklopfen ... bis hin zu der wohlgeformten Hüfte einer rothaarigen Schönheit.
Loki drückte sich zwischen zwei Feiernden an einen Tisch, um sich Wein nachzuschenken. Verdammtes Fest. Er hasste es jetzt schon.
Du verträgst nicht so viel ... denk daran!
"Hey, pass doch auf!", beschwerte sich der Ase am Tisch, als Loki ihm die Karaffe unter der Nase wegschnappte.
"Pass doch selber auf", gab Loki schlecht gelaunt zurück und etwas in seinem Blick musste mörderisch wirken, denn der deutlich größere Mann ließ es einfach gut sein und wandte sich murrend wieder seinem Essen zu.

Loki hingegen war sämtlicher Appetit vergangen. Ihm war regelrecht schlecht, wenn er Thor mit all den Frauen betrachtete, die sich anboten, ihm Gesellschaft zu leisten. Ja klar. Als würden sie sich einfach nur zu ihm setzen wollen, um zu reden.
Was interessiert es dich? Du magst ihn doch sowieso nicht.
Loki nippte an seinem Glas, drehte sich auf dem Absatz um und trat auf einen der Balkone nach draußen. Die Sonne war bereits untergegangen und Asgard erstrahlte in tausend Lichtern aus Kerzen und Öllampen, zu Ehren der siegreichen Heimkehr seines Prinzen.
Hätte ich ihn bloß nie kennengelernt - das war der einzige Gedanke, der aus dem Rauschen in seinem Kopf zu ihm durchdrang. Den Blick auf die rote Flüssigkeit gesenkt, das Glas langsam schwenkend, bemerkte Loki gar nicht, wie noch jemand den Balkon betrat.

"So früh schon grübelnd hier draußen?"
Loki hob den Kopf. Es war Balder. "Ich vertrage die Hitze nicht so gut", gab er seine Standardantwort zum Besten und beachtete den jungen Prinzen nicht weiter. 

Doch Balder gab sich damit nicht zufrieden und trat stattdessen näher zu ihm, lehnte sich mit dem Rücken neben ihn an das Geländer. Er legte den Kopf leicht schief, mit einem neckischen Grinsen auf den Lippen. "Magst du Männer?"
Loki spuckte den Wein zurück in sein Glas. Er wusste, dass er diese Diskussion besser nicht betrunken führen sollte, also setzte er einen überraschten, entrüsteten Gesichtsausdruck auf. (Vielleicht gelang dieser ihm so gut, weil er tatsächlich überrascht und entrüstet war). "Wie meinst du das?" 
"Na, so wie ich es sage."
Loki schwieg.

War er Männern denn eher zugetan, als Frauen? Sein erster Gedanke war ein klares Nein, aber dann wiederum, wann hatte er sich mal zu Frauen hingezogen gefühlt? Oder zu überhaupt irgendwem? Oder hingezogen, zu irgendetwas? Er konnte sich nicht erinnern. Alles was er wusste, war, dass lediglich Thors Nähe ihn in einen besorgniserregenden Zustand versetzte. 
"Nein, tut mir Leid", beschloss Loki schließlich etwas härter als beabsichtigt und trank einen großen Schluck Wein. "Nicht mehr, oder weniger, als andere Dinge."
"Ach, wirklich?" Balder rückte grinsend näher, bis ihre Arme sich an der Brüstung berührten. Er sah ihn mit festen Blick an, ein warmes, schelmisches Leuchten in den rotbraunen Augen. Loki hatte Mühe, diesem Blick standzuhalten. Der Wein machte ihn hitzig und kühn, seine Beine allerdings wackelig. 

Durch diese plötzliche Nähe bedrängt, bohrte Loki seine freie Hand in das Geländer an seinem Rücken. "Ja, ich bin mir ziemlich sicher. Ich lebe in diesem Körper, weißt du?" Trotz der kühlen Luft wurden seine Wangen immer heißer. Was hatte dieser Kerl bloß vor? 

Die Bilder von Thor mit Frauen im Arm zogen vor seinem inneren Auge vorbei und Lokis gekränkter Stolz schrie förmlich danach, sich auch jemanden für das Fest zu suchen. Etwas Spaß zu haben und nicht zu grübeln. Nicht alleine zu sein.
Plötzlich fühlte er warme Lippen auf seinen. Für den Moment war unfähig zu denken, unfähig zu handeln. Er stand einfach da. Betrunken. Fühlte. Und verdammt, der Kuss fühlte sich weich und gut an, zwei Hände lagen auf seiner Brust und dieser angenehme ...
Das ist Balder.

Wie vom Blitz getroffen schob Loki den jungen Prinzen von sich, starrte ihn mit offenem Mund fassungslos an. "Was ... tust du da! Du ... du bist keine Prinzessin und erst sechzehn! Wenn das jemand sieht, dann ..."
"Du bist auch nicht viel älter", unterbrach Balder ihn grinsend, ließ aber von ihm ab. Machte, offensichtlich mehr als zufrieden, ein paar Schritte zurück. Dann verschwand er mit einem amüsierten Leuchten in den Augen so schnell, wie er aufgetaucht war.

Völlig perplex fuhr Loki mit einem Finger über seine Lippen. Versuchte, das Geschehene zu verarbeiten, doch es kam ihm wie ein irrer Traum vor.
Du mochtest es.
Murrend schob Loki seine Gedanken beiseite und leerte sein Glas in einem Zug. Es war spät, er war müde von dem ganzen Tag und Thor war ohnehin nicht aufzutreiben, dafür aber sein Bruder, der ihn geküsst hatte. Er sollte dringend von hier verschwinden.
Wenn Thor es getan hätte ...
Allein die Vorstellung ließ Lokis Knie weich werden und er beschloss, dass er dringend mehr Wein brauchte. Und am besten Zeit alleine, denn all die fröhlichen Gesichter in dem Raum hielt er nicht mehr aus. Allerdings konnte er auch nicht ohne seine Sachen gehen, die in Thors Gemächern lagen.

Loki stellte seinen Becher auf einem Tischchen ab und machte sich auf den Weg zurück zum königlichen Palasttrakt. Natürlich kam er hier alleine nicht hindurch, aber wer spielte schon gerne fair? Er wollte ja nur kurz seine Sachen holen.
Unsichtbar schlich er an den Wachen vorbei, öffnete die Tür zu Thors Zimmer einen Spalt breit und schlüpfte lautlos hindurch, bemüht vorsichtig. Doch die Laute hinter ihm, ließen Loki zusammenzucken.

Langsam drehte er sich um. Thor und die Rothaarige. Nackt und wild knutschend auf dem Bett. Lokis Konzentration verpuffte augenblicklich und sofort wurde er wieder sichtbar, den Mund ungläubig geöffnet.

Die rote Schönheit bemerkte ihn zuerst. Sie war aber derart betrunken, dass sie nur kichernd auf ihn zeigte. Thor, der wohl eher mit einem Geist gerechnet hätte, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. "Was gibt es da zu kichern, hm?", wollte er grinsend wissen. Doch sein Grinsen erstarb, als er sich langsam umdrehte und Loki entdeckte. Kein Wort verließ seine Lippen.

Loki stützte sich an der Wand. Die Welt begann sich zu drehen. Vielleicht war es auch sein Kopf, denn zugegeben, er hatte einiges getrunken für seine Verhältnisse. Mann, diese Situation war nicht nur extrem peinlich, nein. Er fühlte den Stich tiefer Enttäuschung, mitten ins Herz. Seine Brust zog sich zusammen, seine Beine wollten nachgeben. Doch mit einem Schlag fühlte er nichts mehr. Die Enttäuschung sackte, fügte sich nahtlos in den Rest seines Lebens. Völlige Lethargie erhielt Einzug. 
Was gut war, weil er seine Beine wieder spürte und der Raum dankbarer Weise aufhörte, sich im Kreis zu drehen. Ohne Zögern nutzte er den Moment, zog sich Balders Tunika über den Kopf, schlüpfte aus seinen Lederhosen, es war ihm egal, dass Thor ihn anstarrte. Ebenso flink hatte er seine eigene, noch feuchte Kleidung vom Stuhl geschnappt und angezogen.
"Loki was ... warte wo gehst du hin?" Thor schien mit einem Mal todernst. Verwirrt.
"An einen Ort der möglichst wenig mit hier zu tun hat", gab Loki vollkommen gleichgültig zurück.
"Warte ... wie ..."
"Mach es gut, Thor." Loki sah nicht zurück und zog die Tür hinter sich zu.




Als er am frühen Morgen völlig betrunken zum Tempel zurück gekrochen kam, sparte selbst Erik sich einen Kommentar. 
Loki schaffte es gerade so in sein Zimmer, vollkommen am Ende und auch wenn er erfolgreich jede andere Erinnerung getötet hatte, so blieb doch ausgerechnet die zurück, in der nackte Körper sich auf Thors Bett räkelten. Wieso musste er so gequält werden? Und dann auch noch wegen etwas völlig Unbedeutendem? Was ging es ihn überhaupt an?
Du bist ein Idiot. Ein riesiger Idiot.
Ja, er fühlte sich so. Er fand doch ohnehin, dass Thor ihm ständig zu nahe trat und nun hatte er diese Nähe eben auf jemand anderen verlagert.
Genau was du wolltest.
Aber warum fühlte es sich nur so furchtbar kalt an?
Du bist betrunken. Geh ins Bett.
Ohne Widersprüche folgte Loki seiner inneren Stimme, fiel stöhnend in die weichen Kissen und zog mit einem Griff den kleinen Mülleimer näher an das Bett heran. Nur für alle Fälle.
Keinen Augenblick später war er eingeschlafen.




Es klopfte. Laut. Loki stöhnte.
"Was ist denn ...", brummte er so laut er konnte, doch er bereute es augenblicklich, als explosionsartige Kopfschmerzen durch seinen Schädel schossen. Okay, er hatte gestern (war denn überhaupt schon der nächste Morgen ...?) Einiges getrunken, wahrscheinlich konnte er ganz froh sein, noch zu atmen.
"Loki, mach auf. Der Prinz ist hier, um dich zu sehen!"
"Ich will ihn aber nicht sehen!", gab Loki zurück und ließ seine Stimme noch elendiger klingen als er sich ohnehin schon fühlte. Wenn das überhaupt möglich war.
"Loki, ich kann ihn nicht wegschicken ..."
"Bitte, Meister Erik. Es geht mir ... ich fühle mich, als hätte eine Horde Bilgenschweine mich überrannt. Könnt Ihr ... könnt Ihr nicht einmal gnädig sein? Ich ..." Allein bei dem Gedanken Thor jetzt gegenübertreten zu müssen, drehte sich Loki der Magen um und dann geschah  etwas, das seinen gesamten Tag rettete: Er musste kotzen.

"Loki ... übergibst du dich?"
Nein, ich tu nur so!, rollte Loki mit den Augen, verkniff sich aber einen Kommentar. Er stand schwerfällig vom Bett auf, um zum Waschtisch zu laufen. "Wie ich bereits sagte ... es geht mir nicht gut!"
"Ich werde dem Kronprinzen ausrichten lassen, dass du unpässlich bist."
Endlich ein wenig Kooperation. "Danke, Meister."

Schritte, die sich entfernten. Sehr gut, dann konnte er sich diese Situation für heute ersparen. Aber wie lange würde das gut gehen? Er konnte Thor ja nicht ewig aus dem Weg gehen, allein wegen der Tatsache, dass er ein Seidr war. Früher oder später würde auch er zu wichtigen Besprechungen hinzugezogen. Der Magierorden stand der königlichen Familie in vielerlei Hinsicht sehr nah.
Sag ihm einfach, dass du ihn nicht mehr sehen kannst. Sag ihm die Wahrheit. Du könntest einen Brief schreiben!
Ja einen Brief. Das war eine gute Idee! Gleich nachdem er fertig war mit seinem Elend, der Übelkeit, ein ausgiebiges Bad genommen und etwas gegessen hatte, würde er einen Brief schreiben. Oh, richtig. Vorher würde er noch eine ganze Weile einfach nur schlafen.



Später schickte Loki seinen Brief ab, per verzauberter Brieftaube (nur um sicher zu gehen, dass die Botschaft niemand anderem in die Hände fiel) und war eigentlich ganz zufrieden. Er hatte kurz und prägnant geschildert, warum es besser war, wenn sie sich nicht mehr sahen und dass er ohnehin zu wenig Zeit hatte, als Seidr, um dauerhaft irgendwelche Unternehmungen zu starten. Und, dass er seine Zeit ja ohnehin alleine verbringen konnte, wenn sie sich verabredeten, und er der Einzige war, der dabei auftauchte.
Thor würde es sicher verstehen. Schließlich brauchte er ihn nicht.
Das hatte er auf dem Fest ja ganz deutlich bewiesen.

Herz über Kopf #1Where stories live. Discover now