Mehr als Brüder

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Vielleicht waren sie nicht gerade feinfühlig, als sie ihre Beziehung gegenüber Aberforth offenbarten, doch Albus war froh, dass sie es aus einer Position der Stärke heraus getan hatten. Es war die einzige Sprache, die Aberforth verstand. Bei Bathilda fiel ihnen die Enthüllung schon wesentlich schwerer, aber auch hier war keine Zeit zu verlieren.

Als sie einige Tage später mit ihr beim Tee saßen, kam Bathilda erneut die Idee, den Moment mit ihrer Kamera festzuhalten. Als sie die beiden bat, für das Bild doch etwas näher zusammenzurutschen, spürte Albus plötzlich Gellerts Hand auf seinem Bein. Ermutigt davon drückte er in dem Moment, als Bathildas Gesicht hinter dem Fotoapparat verschwand, einen Kuss auf Gellerts Wange. Die Aufnahme erwischte sie beide wenige Sekunden später, als sie in schallendes Gelächter ausbrachen. Danach rückten sie mit der Sprache heraus, doch Bathilda lächelte nur, weil sie beiden längst durchschaut hatte. „Meine Freundin Muriel hat dieses Foto von euch gesehen und gefragt, ob ich denn nicht nur schwanger sei, sondern auch blind. Für sie war es sofort sonnenklar, dass ihr beiden die Nächte mit etwas anderem verbringt, als Büchern und Reden."

„Oh, wir reden auch viel", sagte Albus ein wenig kraftlos, und Gellert lachte.

Bathilda stimmte ein und hielt sich ihren kugelrunden Bauch.

„Nur noch drei Wochen, dann ist es so weit ... Was haltet ihr von ‚Aurelius' für den Kleinen?", fragte sie.

Albus und Gellert nickten und schwiegen ein wenig betreten, denn dieser Geburtstermin war äußerst ungünstig für ihre Reisepläne. So war Bathilda die Erste, der die beiden Jungen von ihrem Vorhaben erzählten, bald Godric's Hollow zu verlassen.

Sie hatten – diesen Teil sparten sie allerdings aus – einen mehrstufigen Plan entwickelt, mit dem sie die Heiligtümer des Todes aufspüren und die Befreiung der Zaubererschaft durchsetzen wollten. Alle bisherigen Hinweise deuteten darauf hin, dass sich der Elderstab bei einem Zauberstabmacher in Deutschland befand, und das würde ihre erste große Herausforderung werden. Danach kämen die übrigen Heiligtümer des Todes an die Reihe, und am Ende stand das Ziel, eine Welt zu erschaffen, in der Zauberer und Hexen frei waren.

Zugegebenermaßen schritt die Ausarbeitung dieses Plans etwas zäh voran, denn seit sie den Blutpakt geschlossen hatten, fiel es ihnen schwerer als je zuvor, die Finger voneinander zu lassen. Gellert gefiel sich in der Rolle des romantischen Liebhabers ausnehmend gut, und ließ keine Möglichkeit aus, Aberforths Machtlosigkeit in dieser Sache zu demonstrieren. Er kam nun nicht mehr verstohlen durchs Fenster, sondern klopfte an der Haustür. Und wenn Aberforth öffnete, kam es vor, dass Gellert ihm wie einem Dienstboten seinen Mantel zuwarf und, sich bereits das Hemd aufknöpfend, die Stufen zu Albus' Zimmer hinaufstolzierte.

Weder Aberforths wutschäumender Blick, wenn er wegen des Bannzaubers am Fuße der Treppe zurückbleiben musste, noch die Tiraden, die er Albus tagsüber an den Kopf warf, konnten etwas daran ändern, dass sie sich fast jede Nacht trafen. Das Einzige, was Aberforth beeinflussen konnte, war Ariana, die er vor Gellert schützte und abschirmte wie eine zerbrechliche kostbare Vase, und so blieb sie, bis der August zur Neige ging, die einzige Person, die nichts von Albus' Liebesleben wusste.

Gellert war der Meinung, sie sollten diese Sache aufklären, wenn Aberforth für das sechste Schuljahr zurück nach Hogwarts gegangen war. Solange könnten sie weiter ungestört den Plan ausarbeiten. Sobald Aberforth fort war, würden sie aufbrechen und Ariana am besten einfach mitnehmen. Albus versuchte einzuwenden, dass Ariana nicht reisefähig sei und Aberforth ihnen keinen Zeitplan zu diktieren habe, doch da waren Gellerts Hände schon wieder unter sein Hemd gefahren und – wie war noch gleich der Rest seiner Argumentation gewesen?

Aus einem Problem wurde eine Herausforderung: Wie konnten sie es schaffen, Ariana mit auf ihre Mission zu nehmen, wo sie doch von der Außenwelt keine Ahnung hatte und jeden Moment einen ihrer verheerenden Anfälle bekommen konnte?

Albus bat Gellert um ein paar Tage Auszeit und verschanzte sich mit einem Runen-Lexikon, mehreren Rollen Pergament und einem ganzen Haufen Süßigkeiten in seinem Zimmer. Es war nicht mehr und nicht weniger als die komplizierteste Zauberformel, an der er je gearbeitet hatte. Aber er wusste, wie sie zu klingen hatte und was sie bewirken sollte, denn er hatte sie in Gellerts Vision auf dem Berggipfel gesehen. Natürlich war es erschreckend gewesen, die glückselig starrenden Gesichter in der Menge zu sehen, aber er war fest überzeugt davon, dass dieser Zauber für etwas Gutes eingesetzt werden konnte: für Arianas Größeres Wohl.

Der August war vergangen, und kalter Wind rüttelte an den Bäumen, deren Blätter sich langsam rot und gold verfärbten. Die Zeit zum Aufbruch war gekommen. Albus stand auf dem Friedhof vor dem Grab seiner Mutter und beschwor mit dem Zauberstab einen Kranz aus Herbstblumen auf die Erde. Die Rosen aus dem Vorgarten, die er für diesen Zweck so oft mitgebracht hatte, waren längst verblüht.

Zeit, Abschied zu nehmen, Mum.

Gellert erschien hinter ihm. Behutsam trat an ihn heran, schlang die Arme um ihn und zog ihn an sich. Albus lächelte. Er kraulte Gellerts Kopf, als der ihn im Nacken küsste, und genoss die Sicherheit, die ihm seine Nähe gab. Eng umschlungen standen sie beide vor dem Grab und blickten auf die Inschrift.

„,Denn wo dein Schatz ist, ist auch dein Herz'. Na, weißt', wo dein Herz ist, Albus?", fragte Gellert.

„Bei dir", sagte Albus, „und wo immer wir beide hingehen werden."

„Dann ist er also weg – Aberforth?"

„Heute Morgen abgereist."

„Und die Beschwörung für deine Schwester?"

„So gut wie fertig."

Er spürte eine seltsame Anspannung in Gellerts Umarmung, als der sagte: „Ja gut, dann samma wohl bereit zur Abreise ..."

Albus drehte sich zu ihm um. „Was ist los? In letzter Zeit hab' ich das Gefühl, du willst überhaupt nicht mehr aufbrechen! Dabei hast du selbst dieses Zeitfenster gesetzt."

„Ich weiß – ich weiß", sagte Gellert. „Das eine Mal, wo diese Kristallkug'l was Sinnvolles ausg'spuckt hat. Es ist nur ... so ... schad' zu gehen, weißt?"

Albus sah ihn abschätzig an. „Schade? Dieses Kaff zu verlassen?"

„F-freilich!", sagte Gellert mit sich selbst ringend.

„Was ist los?"

Gellert öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann schien er es sich jedoch anders zu überlegen und berührte Albus' Wange. „Das gefällt mir", sagte er und seine Finger umspielten die Bartstoppeln seines Freundes, denn in den letzten Tagen hatte Albus nicht mehr daran gedacht, sich zu rasieren. „Ich bin halt ein wen'g nostalgisch, weißt. Du willst heut' Nacht geh'n? Na geh' ma natürlich. Ich hab' mich nur g'fragt, ob wir vielleicht vorher ..." – seine andere Hand nestelte vielsagend an Albus' Hemdkragen.

„Wir werden dafür noch jede Menge Zeit haben, wenn wir unterwegs sind, Gellert!", sagte Albus und lachte.

„Gewiss, gewiss!", murmelte Gellert mit einem leisen Seufzen und ließ von ihm ab. Dann lächelte er tapfer. „ ... wenn wir unterwegs sind." 

Summer of '99 - Die Herren des TodesWhere stories live. Discover now