Der aufdringliche Rennbesen

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Im Frühsommer 1899 herrschte in dem kleinen Dorf namens Godric's Hollow eine fast schon unwirkliche Idylle. Jedenfalls für die meisten. Sämtliche Bewohner waren auf den Beinen und spazierten sorglos in den vom Abendlicht gefluteten Straßen, denn so einen herrlichen Sonnenuntergang sah man hier an der Küste nicht oft. Sie schwatzten und lachten, als sei nichts geschehen, doch über einem hohen, spitzgiebligen Haus am Dorfrand, um das sich so viele Gerüchte rankten wie um kein zweites in dieser Gegend, lag ein Mantel des Schweigens, und hier war nichts wie zuvor.

Hier, wo das Türschild nach wie vor eine „Familie Dumbledore" auswies – eine Zaubererfamilie, wie manche munkelten und andere ganz sicher wussten. Sie alle schienen aber vergessen zu haben, dass es dort keine Familie mehr gab. So zumindest empfand es Albus Dumbledore, der älteste von drei Geschwistern, auf dessen Schultern eine immense Last gefallen war: Vollwaise und Vormund nur wenige Wochen vor seinem 18. Geburtstag.

An jenem Abend im Frühsommer 1899 stand er am Fenster seines Zimmers, das mehr einer wirren Gelehrtenstube als der Kammer eines Jugendlichen glich, die Hände auf das Sims gestützt und neigte den Kopf nach links, um das emsige Treiben auf der Straße jenseits des Gartens zu beobachten. Das halblange rotbraune Haar fiel ihm ins Gesicht und verdeckte seine strahlend blauen, aber dunkel umrandeten Augen. Er wollte den Menschen auf der Straße keine Beachtung schenken und konnte sich doch nicht von dem Anblick losreißen, denn es waren nicht nur Nicht-Magier, Muggel, wie sie gemeinhin genannt wurden, die dort ihren Abendspaziergang genossen: Auch Hexen und Zauberer, junge wie alte, waren auf den Beinen, und die Frühsommersonne spiegelte sich auf ihren lächelnden Gesichtern.

Wollen die mich denn alle verhöhnen?

Es war knapp einen Monat her, seit Albus' Mutter, Kendra Dumbledore, ums Leben gekommen war. Bei einer Beschäftigung, die sie mehr geliebt hatte als alles andere, nämlich der Pflege ihrer Tochter Ariana. Albus presste die Lippen aufeinander – er konnte nicht verhindern, dass er sich Vorwürfe machte und dass sein Verstand gleich einer Feder wieder und wieder an den einen Punkt zurücksprang, der ihn in diese Situation gebracht hatte. Er drückte seine Stirn an die Fensterscheibe, die eine angenehme Wärme abgab, und ließ seinen Blick ziellos schweifen, während die Erinnerung ihn ein weiteres Mal mitriss.

Albus und sein jüngerer Bruder Aberforth saßen strahlend zusammen mit ihrer Mutter an Arianas Bett. Es war Frühling, und die beiden Jungen waren extra aus Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei, nach Hause gekommen, um den 14. Geburtstag ihrer Schwester mitzufeiern; als die vierköpfige Familie, die sie nach dem frühen Tod ihres Vaters Percival nun waren. Alles war friedlich – selbst Aberforth verzichtete auf seine üblichen Feindseligkeiten gegenüber Albus – und sie alle genossen fröhlich den köstlichen Geburtstagskuchen.

Es war ein unbedachter Kommentar von Aberforth, der die kleine Feier in einen Albtraum verwandelte. Ein paar wenige Worte zum Thema Muggel, die Ariana an ein schreckliches Erlebnis aus ihrer Kindheit erinnerten, das sie zu einem Pflegefall gemacht hatte. Der Rückfall setzte das ganze Ausmaß ihrer schrecklichen Krankheit frei: Arianas Augen zogen sich zu kleinen schwarzen Punkten zusammen, während ihr ganzer Körper bebte und schwarze Magie freisetzte.

Albus zückte seinen Zauberstab, doch Kendra erhob sich und sagte mit ernster Stimme: „Verlasst sofort das Zimmer!" – Eine Beschwörung, die ihn und Aberforth aus dem Zimmer drängte.

„Nein, Mum!", protestierte er und lehnte sich gegen ihren Zauber. Er konnte sie nicht in dieser Gefahr allein lassen! Gegen die Kraft ihres Bannzaubers aber, der sich aus Mutterliebe speiste, war er machtlos.

„Kümmere dich um deinen Bruder", hörte er ihre Stimme in seinem Kopf, als er hinausgedrängt wurde. Im selben Moment erfasste eine Attacke aus dunkler Materie den Raum, und die Tür fiel krachend ins Schloss.

Summer of '99 - Die Herren des TodesWhere stories live. Discover now